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Scheinriese: Russlands Präsident Wladimir Putin im Kreml.

© Mikhail Tereshchenko/AFP

Der russische Bär verzwergt sich: Putins Gas-Stopp gegen Polen und Bulgarien ist ein Verzweiflungsakt

Mehr als 60 Tage Krieg entlarven Russland als Scheinriesen. Putins Hebel zur Erpressung werden schwächer. Das ändert die Optionen für Frieden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. Die Dinge ändern sich. Wladimir Putins Macht bröckelt. Als er Europa Anfang März drohte, kein Gas mehr zu liefern, hatte er großes Erpressungspotenzial. Heute ist das anders.

Damals führte er den Deutschen und ihren Nachbarn vor, wie gefährlich abhängig sie sich über die Jahre gemacht haben. Frieren und tausende Jobs verlieren, etwa in der Chemiebranche?

Dieser Preis für Solidarität mit der Ukraine schien dann doch zu hoch. So war die Forderung rasch vom Tisch, russisches Gas zu boykottieren, damit der Westen Putins Krieg nicht mit Zahlungen von täglich 700 Millionen Dollar weiter finanziert.

Der Winter ist vorbei. Polen und Bulgariens Lieferverträge enden

Nun dreht Gazprom Polen und Bulgarien den Gashahn zu. Es wirkt wie ein Verzweiflungsakt Putins in der Hoffnung, der Hebel wirke weiter. Doch der Winter ist vorbei. Beide Länder sind für die nächsten Monate versorgt.

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Zudem laufen ihre Verträge mit Gazprom 2022 aus. Verlängern wollen sie sie nicht. Wer würde Russland jetzt noch vertrauen?

Verdichterstation für russisches Erdgas in Mallnow, Brandenburg. Von hier aus kann auch Gas zurück nach Polen gepumpt werden, nachdem Gazprom direkte Lieferungen dorthin beendet hat.
Verdichterstation für russisches Erdgas in Mallnow, Brandenburg. Von hier aus kann auch Gas zurück nach Polen gepumpt werden, nachdem Gazprom direkte Lieferungen dorthin beendet hat.

© Patrick Pleul//dpa

Europa stellt sich zügig auf eine Zukunft ohne russische Energie um. Es achtet aber darauf, seine Wirtschaft nicht zu schädigen und selbst nicht vertragsbrüchig zu werden.

Das ist ein psychologisch wichtiger Punkt im Kampf um die öffentliche Meinung, wie sich im Rückblick zeigt. Ende März hatte Putin die Bezahlung in Rubel statt wie vereinbart in Euro verlangt. Europa weigerte sich. Putins Drohung mit einem Lieferstopp erwies sich als Bluff.

Russland ist schwächer, als Europa und wohl auch Putin glaubten

Aus dieser Erfahrung dürfen Deutschland und Europa Zuversicht ziehen. Sie lassen sich noch immer von Putins Drohungen beeindrucken, überschätzen die Stärke des russischen Bären und unterschätzen die eigenen Kräfte. Gut möglich, dass der Umgang mit Bulgarien und Polen ein Signal an Deutschland sein soll. Und Gazprom demnächst testet, wie Berlin auf einen Lieferstopp reagiert.

Es wäre noch immer ein heftiger Schlag für die Wirtschaft, sie ist heute aber besser vorbereitet. Putin hingegen braucht die Einnahmen dringender als damals.
Die 63 Tage seit Kriegsbeginn haben den Scheinriesen Russland verzwergt. Er ist viel schwächer, als der Westen und wohl auch Putin dachten.

Der Ukraine traute anfangs kaum jemand zu, dass sie dem Angriff standhält. Inzwischen gilt als gar nicht mehr unwahrscheinlich, dass die ukrainische Armee die russische mit westlicher Waffenhilfe schlägt. Ihr Ziel und das der USA hat sich von der Minimierung der Verluste zum Sieg verschoben.

Ist Putins Drohung mit Atomwaffen ein Bluff? Er hat Kinder und Enkel

Das stellt Deutschland, Europa und die USA vor heikle Abwägungen. Wie viel Mut ist erlaubt? Wie ernst sind Putins Drohungen mit Atomwaffen zu nehmen? Er ist doch selbst Vater und Großvater und weiß, dass ein Atomkrieg das Ende der Welt bedeutet.

Mehr zum Ukraine-Krieg auf Tagesspiegel Plus:

Aus militärischer Sicht wäre dies der Moment, zur Gegenoffensive überzugehen, um Russlands Position bei Verhandlungen zu schwächen und durch Rückeroberungen die Grundlagen für dauerhaften Frieden zu schaffen. Der ist nicht möglich, solange Putin an der Macht ist und Russland fremdes Territorium besetzt hält.

Zum Beispiel in Transnistrien, das zu Moldawiens Staatsgebiet zählt. Putins Interesse, einen Landkorridor von der Krim durch die Südukraine nach Transnistrien zu erobern, würde schwinden, wenn das Gebiet nicht mehr russisch besetzt wäre.

Militärisch kann die Ukraine das leisten und Putin wenig dagegen tun, weil seine Truppen schon jetzt überfordert sind. Völkerrechtlich wäre es nicht zu beanstanden, wenn Moldawien um Hilfe zur Befreiung seiner Gebiete bittet.

Das sind Fragen, die Regierende von Kiew über Berlin bis Washington in Gewissensnot stürzen. Was dient dem Frieden mehr: militärische Zurückhaltung oder die Beseitigung der Kriegsgründe?

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