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Der Großbürger, der mit einer Adeligen verheiratet war, gab sich gerne volksnah. Giscard d´Estaing 1973. (

© Daniel Janin/ AFP

Der Präsident meiner Kindheit: Der konventionelle Großbürger, der Frankreich modernisierte

Valéry Giscard d´Estaing prägte eine ganze Generation: Er lockerte das bigotte und heuchlerische Korsett, an dem Frauen (und Männer) einst erstickten. Eine Kolumne

Valéry Giscard d'Estaing sagte einmal melancholisch: ,,Wir hinterlassen Zeichen auf Sand, und Sie wissen ja, was die Flut daraus macht…“ Eine Reflexion über das, was bleibt. Doch nein, die Flut hat bei weitem nicht alles verwischt, was Valéry Giscard d'Estaing erreicht hat. VGE, wie die Franzosen ihn nennen, hat das Frankreich meiner Kindheit, das Frankreich der 70er Jahre gründlich umgekrempelt.

1974 wurde er gewählt, sechs Jahre nach Mai 68. Der junge Präsident zog einen Schlussstrich unter die De Gaulle-Jahre. Schon merkwürdig, dass ausgerechnet dieser großbürgerliche, glatzköpfige, immer in steifen Anzügen auftretende Mann, der mit einer Gräfin verheiratet war und einen eigentümlich altmodischen Duktus pflegte, dass ausgerechnet dieser Mann den Fortschritt verkörpert.

Er lockerte das bigotte und heuchlerische Korsett, an dem Frauen (und Männer) zu jener Zeit erstickten. VGE steht für die Legalisierung der Abtreibung, für das Recht der Frauen auf ein eigenes Bankkonto ohne die Erlaubnis ihres Mannes, für die einvernehmliche Scheidung, für Koedukation und die Volljährigkeit mit 18.

Was heute so selbstverständlich erscheint, war damals eine Sensation. Es bedurfte schon einigen Mutes, um all diese Änderungen durchzusetzen.

Sehr konventionell und sehr liberal

Ich erinnere mich noch gut an den Triumph meiner Mutter, als sie mit ihrem ersten, eigenen Scheckheft nach Hause kam. Ich erinnere mich, wie sie im Demonstrationszug vor unserem Fenster ein Schild hochhielt mit „Ich habe abgetrieben“, und dass sie weinte, als Simone Veil im Parlament für das Recht der Frauen plädierte, über ihren Körper selbst verfügen zu dürfen.

Und ich erinnere mich an die Erleichterung der Mutter meiner besten Freundin, geschieden und deshalb von ihren eigenen Eltern verstoßen, weil sie sich nun nicht mehr verstecken musste. Und auch an meinen Wechsel auf ein gemischtes Gymnasium. Wir waren zwei Mädchen in einer Jungenklasse. 1981 habe ich dank VGE Mitterrand wählen können.

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VGE war ein Präsident voller Widersprüche: sehr konventionell und zugleich sehr liberal. Er war der erste Präsident, der sich in Szene setzte. Er ließ sich von Kindern umringt fotografieren, und mit nacktem Oberkörper am Strand. Er spielte Akkordeon.

Um die Stimme des Volkes besser zu verstehen, lud er sich bei Durchschnittsfranzosen zum Abendessen ein. Er war Mitglied der Académie Française und schrieb (und veröffentlichte!) peinlich kitschige Liebesromane: die erotischen Abenteuer eines Notars mit einer schönen Tramperin oder auch die heiße Leidenschaft eines Präsidenten für eine Prinzessin (er und Lady Di? Das wird für immer ein Geheimnis bleiben).

Ein ungleiches, aber dauerhaftes Paar: Giscard mit Bundeskanzler Helmut Schmidt
Ein ungleiches, aber dauerhaftes Paar: Giscard mit Bundeskanzler Helmut Schmidt

© AFP

VGE war auch ein unermüdlicher Europäer, der mit Helmut Schmidt ein zwar unwahrscheinliches, aber dauerhaftes Paar bildete. Auf der einen Seite der Sohn eines hohen Staatsbeamten mit Schloss und Adelsprädikat. Auf der anderen Seite, Helmut Schmidt, oder einfach Schmidt, Sohn eines Lehrerehepaars und Sozialdemokrat. Beide hatten den Krieg als junge Soldaten erlebt.

Zusammen brachten sie Europa voran. Und alle erinnern sich an den Abschied Valéry Giscard d'Estaings nach der verlorenen Wahl 1981. Er saß an einem Schreibtisch und hielt eine ernste Rede. Ihr folgte ein langes Schweigen. Dann schaute er in die Kamera, sagte schlicht „Au revoir“, stand auf, drehte sich um und ging. Der ewig Beleidigte aus dem Weißen Haus hätte sich daran ein Beispiel nehmen sollen. Übersetzung aus dem Französischen: Odile Kennel

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