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Die Freiheitsstatue in New York - ein starkes Symbol für viele Einwanderer in die USA.

© Peter Foley/epa/dpa

Der lange übersehene Rassismus in den USA: „Wir haben uns einlullen lassen“

Es muss sich etwas ändern in Amerika, und das Gute ist: Die Mehrheit sieht das so. Deshalb bedauere ich nicht, dass meine Eltern aus Indien in die USA gingen. Ein Gastbeitrag.

- Sudha David-Wilp ist stellvertretende Direktorin im Berliner Büro des German Marshall Fund of the United States. Gregor Dotzauer hat ihren Text aus dem amerikanischen Englisch übersetzt.

Als Woman of Color zähle ich auf dem Gebiet der transatlantischen Beziehungen zu den Ausnahmen. Es stört mich nicht, eines der wenigen dunklen Gesichter in einem Publikum irgendwo in Berlin-Mitte zu sein, das an einer Diskussion über Sicherheit oder Handel teilnimmt, denn ich weiß, dass Vielfalt bei mir zu Hause in Amerika die Regel ist – und keine Ausnahme.

Tatsächlich habe ich auf Panels über die deutsch-amerikanische Partnerschaft oft gesagt, dass es gut war, dass meine Eltern die Vereinigten Staaten von Amerika gewählt haben, als sie beschlossen, aus Indien auszuwandern, und nicht etwa Großbritannien oder Australien. Warum?

Weil meine Familie der lebende Beweis für den amerikanischen Traum ist, der, wie es die Unabhängigkeitserklärung formuliert, auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück beruht. Aber was ich mir selbst und anderen erzählt habe, droht gerade zu zerbrechen. Ich erkenne, wie sehr ich selbst das Ausmaß des institutionellen Rassismus in Amerika unterschätzt habe und muss dabei zusehen, wie mein Land genau die Werte missbraucht, die als Kern der transatlantischen Partnerschaft gelten.

Ich hatte das Glück, zu einer Zeit und an einem Ort in Amerika aufzuwachsen, die meine Einwandererfamilie willkommen hießen. Wir bekamen von den Rassenunruhen der 1960er Jahre kaum etwas mit, und obwohl die Kulturkriege in meinen prägenden Jahren eine große Rolle spielten, blieb ich von ihnen in meiner Heimat des Hudson Valley weitgehend verschont. Ich zweifelte nie an meiner amerikanischen Identität und war irritiert von jüngeren Familienmitgliedern, die sich selbst als indische Amerikaner bezeichneten.

Während sich meine Familie erfolgreich ihren Weg in die amerikanische Gesellschaft bahnte, war es für meine afroamerikanischen Mitbürger schwieriger. Obwohl ich in Bezug auf Vorurteile und Rassismus nicht völlig naiv war, nahm ich an, dass uns die Bürgerrechtsbewegung ein großes Stück weiter und fast ans Ziel gebracht hatte.

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Doch als ich im College mit meinen schwarzen Freunden über die Filme von Spike Lee diskutierte, ging es dabei weniger um die Wirklichkeit als um die Kunst, und obwohl ich mir ihre Warnungen vor Polizisten anhörte, die einen grundlos abführen, hatte es mit meinem Leben wenig zu tun.

Nach zu vielen schockierenden Videos, zuletzt demjenigen, das fast neun tragische Minuten lang einen George Floyd in Handschellen zeigt, der keine Luft mehr bekommt und um sein Leben fleht, ist es für uns alle, die wie ich zu einer Minderheit gehören, an der Zeit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Afroamerikaner immer noch auf breiter Front diskriminiert und benachteiligt werden.

Schwarze Männer fallen mit zweieinhalbmal größerer Wahrscheinlichkeit Polizisten zum Opfer als Weiße, und obwohl Schwarze an der Gesamtbevölkerung nur etwa 13 Prozent ausmachen, stellen sie fast ein Drittel der Gefängnisinsassen. Abgesehen von physischen Gefahren gibt es noch andere alltägliche Probleme wie den Ausschluss von bestimmten Dienstleistungen (redlining) und die Beschränkung auf bestimmte Wohngebiete (exclusionary zoning).

Viele Amerikaner hatten sich einlullen lassen

Natürlich ist das Bild komplizierter, als es die Medien zu zeichnen versuchen. Die Armut ist zurückgegangen, und das Bildungsniveau der Afroamerikaner ist gestiegen. 2018 waren 37 Prozent der Schwarzen in Colleges eingeschrieben, gegenüber 42 Prozent der Weißen. Oberflächlich betrachtet, ist Amerika zweifellos ein vielfältiges Land, aber das Erbe der Sklaverei ist in den USA noch immer präsent. Viele Amerikaner hatten sich selbstzufrieden einlullen lassen, nachdem Amerika 2008 seinen ersten schwarzen Präsidenten gewählt hatte.

Ich hätte es besser wissen müssen, denn zwei Jahre später habe ich den demokratischen Kongressabgeordneten John Lewis nach Deutschland begleitet, der als lebende Ikone der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gilt und schon an der Seite Martin Luther Kings in den 60er Jahre für Gleichheit gestritten und für seine Überzeugungen ins Gefängnis gegangen war. Er berichtete von seinem lebenslangen Kampf für die Gleichheit der Menschen und schilderte seine teils dramatischen Erlebnisse, wie etwa den Marsch über die Brücke von Selma, auf der die Polizei die Demonstranten mit Knüppeln attackierte. Eine junge deutsche Frau fragte, ob sie ihn umarmen dürfe. Sie könne nicht glauben, dass er aus Fleisch und Blut sei.

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Covid-19 hat die Ungleichheiten in meinem Land erst recht sichtbar gemacht. Es gibt ein Sprichwort: Wenn Weiße sich erkälten, bekommen Schwarze eine Lungenentzündung. Die Pandemie hat People of Color unverhältnismäßig stark betroffen. Mit anderen Worten, das Virus hat diejenigen, die an vorderster Front arbeiten und in Wohnvierteln mit hoher Bevölkerungsdichte und eingeschränktem Zugang zur Gesundheitsversorgung leben, einen hohen Preis zahlen lassen.

Die Amerikaner sind sich der Ungleichheit bewusst, und wenn man die lange Reihe der Tötungen unbewaffneter Schwarzer vor George Floyd hinzufügt, besteht kein Zweifel daran, dass wir die schmerzliche Frage, wie sich der systemische Rassismus auf unser Land ausgewirkt hat, erneut aufgreifen müssen. Wir können uns nicht zur Wahrung demokratischer Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz bekennen, solange wir keine Schritte zur Bekämpfung der Rassenungerechtigkeit unternehmen.

Die gute Nachricht ist, dass die meisten Menschen sehen, dass wir an einem Wendepunkt angelangt sind. Laut einer Umfrage von CBS News sagen 61 Prozent der Amerikaner, dass die Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen im Allgemeinen schlecht sind.

Ich bedaure nicht, dass meine Eltern in die USA gingen

Die Hoffnung ist, dass wir die Krise zum Handeln nutzen. Eine Mehrheit der Amerikaner verurteilt Präsident Trumps Verhalten. Es gab einen überparteilichen Konsens, dass die vier Polizeibeamten, die an Floyds Tod beteiligt waren, zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Konservative Stimmen und Polizeichefs in ganz Amerika haben die Geschehnisse in Minneapolis verurteilt. Es war ermutigend zu sehen, wie friedliche Demonstranten Polizeibeamte und Truppen der Nationalgarde dazu brachten, mit ihnen zusammen niederzuknien.

Ich bedaure nicht, dass meine Eltern die Vereinigten Staaten zu ihrer neuen Heimat auserkoren haben. Ich glaube immer noch, dass Vielfalt unsere Stärke ist, wenn die Amerikaner die demokratischen Werte des Landes hochhalten und auch leben. Sie haben ein Gespür dafür, aus Fehlern zu lernen, und es ist von Neuem an der Zeit, da weiterzumachen, wo wir einst aufgehört haben.   

Sudha David-Wilp

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