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Der künftige Bundespräsident: War Joachim Gauck ein Bürgerrechtler?

Der frühere Pfarrer, DDR-Oppositionelle und Mitbegründer des Neuen Forums Hans-Jochen Tschiche hat Joachim Gauck vorgeworfen, mit dem Ticket des Bürgerrechtlers durchs Land zu reisen, aber nie einer gewesen zu sein. Hat er Recht?

Von
  • Antje Sirleschtov
  • Matthias Schlegel

„Er ist kein Vater der friedlichen Revolution, sondern er hat sie beendet.“ Mit diesen harschen Worten hat der frühere DDR-Bürgerrechtler Hans-Jochen Tschiche dieser Tage den designierten Bundespräsidenten Joachim Gauck angegriffen. Was Tschiche, ein Urgestein des Widerstands in der DDR, Pfarrer und Mitbegründer des im September 1989 gegründeten „Neuen Forums“, besonders empört: Gauck reise „ohne Skrupel“ auf dem Ticket des Bürgerrechtlers durch die politische Landschaft. Die Äußerungen Tschiches haben eine heftige Debatte ausgelöst – über Gauck, dessen Selbstverständnis und die Frage, was einen Bürgerrechtler überhaupt ausmacht.

Warum wird die Frage, ob Gauck ein Bürgerrechtler war, so kontrovers diskutiert?

Für die Eignung Gaucks als Bundespräsident ist es zweifellos unerheblich, ob man ihn als Bürgerrechtler bezeichnen kann oder nicht. Im Anforderungsprofil für das Amt steht natürlich nicht, dass ostdeutsche Bewerber widerständige Aktivitäten aus DDR-Zeiten vorweisen müssen. Rückschlüsse auf seine Glaubwürdigkeit und charakterliche Integrität freilich könnten gezogen werden, wenn er sich tatsächlich ein Etikett anhängen würde, das er nicht verdient.

Vor allem aber weist der Streit auf ein Phänomen hin: Auch 22 Jahre nach der friedlichen Revolution sind viele der Protagonisten von damals zerstritten. Das hat damit zu tun, dass ihnen – bei aller bereits damals vorhandenen Unterschiedlichkeit – schon lange das einende Ziel abhandengekommen ist: die Verhältnisse in der DDR von Grund auf zu verändern. Anfang 1990 bereits in ihren Ansichten zum Fortbestand der DDR beziehungsweise zur Wiedervereinigung gespalten, zerbrach mit der ersten freien Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 der letzte Rest an Gemeinsamkeiten. Manche wollten unabhängige Bürgerrechtler bleiben und warfen anderen, die kandidierten, vor, sich dem politischen „Establishment“ anzudienen. In unterschiedlichen Parteizugehörigkeiten schmolzen dann ohnehin einstige gemeinsame Ideale dahin.

Unter diesem Vorzeichen muss man auch Tschiches Kritik sehen. Er verbindet sie mit heftiger Schelte an Gauck wegen dessen Hinwendung zum „konservativen Teil der westlichen Gesellschaft“. Ein antikapitalistischer Impuls ist in Teilen früherer DDR-Bürgerrechtler noch immer vorhanden. Das ist nicht verwunderlich: Für die Lösung ihrer einst in der DDR verfochtenen Anliegen betrachteten sie von Beginn an nicht unbedingt den „goldenen Westen“ als Vorbild. Tschiche selbst gehörte zu den Vätern des „Magdeburger Modells“ in Sachsen-Anhalt, einer rot-grünen Minderheitsregierung unter Tolerierung durch die PDS.

Geht Gauck als Bürgerrechtler durch?

Qua Definition muss man dazu zwei Phasen der Bürgerrechtsbewegung betrachten. Die erste geht weit in die DDR zurück. Ende der siebziger Jahre, Anfang der Achtziger formierten sich unorganisiert und zumeist unter dem Dach der Kirche junge Leute, die auf ganz verschiedene Weise Widerstand gegen das DDR-Regime leisteten. Manche taten das sehr still, andere immer mutiger im öffentlichen Auftritt. Wer an diesen Bürgerbewegungen teilnahm, wie etwa der heutige Grünen-Abgeordnete im Europaparlament Werner Schulz, der wird sich an einen Freiheitskämpfer Joachim Gauck nicht erinnern. „Gauck gehörte nicht zu den oppositionellen Gruppen in der DDR“, sagt Schulz, „ein Dissident war er nicht“.

Der frühere SWR-Korrespondent in der DDR und Kenner der damaligen DDR-Kirchenszene Gerhard Rein hatte diesen Befund schon Mitte vergangenen Jahres in Briefen an Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) und Joachim Gauck ausführlicher erläutert. Rein war befremdet darüber, dass Gauck bei der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises und des Börne-Preises als Repräsentant des Widerstands gegen das DDR-Regime gewürdigt worden war. Gauck habe sich im Oktober 1989 in Rostock dem Neuen Forum angeschlossen, schreibt Rein. Vorher sei „ein politisches Engagement gegen den repressiven Staat nicht auszumachen“. Im Kontext der Oppositionsgeschichte der DDR sei Gauck „ein Bürgerrechtler der letzten Stunde“. „In den systemkritischen Friedens- und Umweltgruppen im Umfeld der evangelischen Kirchen trat er nicht in Erscheinung. Im Netzwerk der Oppositionsgruppen war er nicht vertreten. An der Ökumenischen Versammlung, die 1988 und 1989 die wichtigsten Freiheitstexte gegen die SED und ihre Politik veröffentlichte, hat Gauck nicht teilgenommen. Es gibt keinen Text von Joachim Gauck, der in der DDR von Hand zu Hand gereicht wurde. In den Publikationen, die in der DDR von kritischen Gruppen illegal herausgegeben wurden, taucht der Name Gauck als Verfasser nicht auf“, schreibt Rein. Eine Antwort von Gauck hat der Journalist nie erhalten.

Werner Schulz weist allerdings den Eindruck zurück, der Präsidentschaftskandidat würde sich heute zu Unrecht mit dem Label „Bürgerrechtler“ schmücken. Pastor Gauck sei in vielfältiger Weise in seinem kirchlichen Wirkungskreis im Sinne der oppositionellen Gruppen tätig gewesen. In der Jugendarbeit etwa oder bei der ermutigenden Betreuung Ausreisewilliger. Erst im Sommer 1989 habe Gauck die Angst vor Repression überwunden, habe in Rostock Demonstrationen organisiert und Anfang September schließlich das Neue Forum mitinitiiert. Werner Schulz nennt ihn daher einen „Bürgerrechtler der späten Stunde“ und fügt hinzu, dass sich im Unterschied zu Gauck Leute wie Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) heute nicht „Bürgerrechtler“ nennen könnten – weil sie erst aufgestanden seien, als die Gefahr im November 1989 schon vorüber war.

Gauck nach dem Mauerfall. Wortführer für die Wiedervereinigung.

Welche Rolle spielte Gauck in der zweiten Phase der Bürgerrechtsbewegung?

Diese zweite Phase reicht vom Mauerfall bis zum 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung. Gerade im Neuen Forum, der im September in der Wohnung von Katja Havemann in Grünheide bei Berlin gegründeten Bewegung, sammelten sich in dieser Zeit politisch denkende Menschen mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen von der Zukunft der DDR. Der kleinste gemeinsame Nenner war die Abschaffung der diktatorischen Verhältnisse im Land. Doch danach hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Ein Teil der Mitglieder des Neuen Forums wollte einen „demokratischen Sozialismus“ einführen, auf keinen Fall die kapitalistischen Verhältnisse des Westens.

Joachim Gauck wurde Ende Januar 1990 bei der ersten Vollversammlung des Neuen Forums zum Wortführer der Mitglieder, die die Wiedervereinigung anstrebten. Als Gauck in der unübersichtlichen Versammlung in Berlin-Mitte den Antrag stellte, in das Programm das Ziel der Vereinigung von Ost und West zu schreiben, habe das das Neue Forum „beinahe gesprengt“, erinnern sich Teilnehmer heute. Die Gegner Gaucks, Bärbel Bohley etwa, seien wütend aufgesprungen und hätten den Saal verlassen. Sie wollten den Anschluss an den Westen nicht und fühlten sich als wahre Bürgerrechtler. Gauck verachteten sie für seine Haltung.

Letztlich gründete sich im Neuen Forum die Gruppe „Aufbruch ’89“, der Konflikt wurde entschärft. Und Joachim Gauck zog als einer von 20 Abgeordneten des Neuen Forums auf der Liste von Bündnis 90/Die Grünen in die Volkskammer ein. Dort stimmten die Bürgerrechtler im Sommer 1990 mehrheitlich gegen den von Günther Krause und Wolfgang Schäuble ausgehandelten Einigungsvertrag. Gauck aber stimmte mit Ja.

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