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Der Bundestag hat am Freitag 12 Euro Mindestlohn beschlossen.

© IMAGO/Metodi Popow

Der große Tag der Entscheidungen: 12 Euro Mindestlohn, Bundeswehrmilliarden, 139 Milliarden Schulden – aber reicht das?

Selten hat der Bundestag an einem Tag so weitreichende Entscheidungen gefällt, es dürften nicht die letzten gewesen sein – eine Analyse

Wer sich dieser Tage mit Regierungsmitgliedern unterhält, hört immer wieder eine Frage: Reicht das? Selten in der Geschichte der Bundesrepublik hat der Bundestag einen solchen Tag der Entscheidungen erlebt, die alle irgendwie mit der von Kanzler Olaf Scholz (SPD) so bezeichneten Zeitenwende zusammenhängen. Alle fühlen sich ob des Entscheidungsdrucks wie im Hamsterrad, klagen über zu wenig Zeit zum Nachdenken. Eigentlich müsste man zwei Tage mal in Klausur gehen, um stimmige Maßnahmen gegen die hohen Preissteigerungen zu durchdenken. Die Entscheidungen dürften nicht die letzten gewesen sein – aber vieles hängt nun an einem zentralen FDP-Versprechen.

12 Euro Mindestlohn

Der Tag beginnt mit dem Einlösen eines zentralen Wahlkampfversprechens der SPD – Kanzler Scholz gründete darauf seinen Respektwahlkampf. Damit auch keiner vergisst, wer das Copyright darauf hat, hat die SPD am Freitagmorgen um 08.30 Uhr vor Sitzungsbeginn erstmal zum Fototermin geladen – an einer US-Eliteuni wurde ja mal Angela Merkel als die Mutter des 2015 eingeführten gesetzlichen Mindestlohns gewürdigt.

Und so gruppierten sich weit über hundert SPD-Abgeordnete auf den Stufen an der Spree rund um eine riesige rote Zwölf und ein Eurozeichen. Ausgerechnet Kevin Kühnert kam etwas zu spät. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), von Scholz als ein niedersächsisches „Schlachtross“ bezeichnet, stand in erster Reihe.

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Der Mindestlohnbeschluss war ein zentrales Wahlkampfversprechen der SPD
Der Mindestlohnbeschluss war ein zentrales Wahlkampfversprechen der SPD

© IMAGO/Metodi Popow

2100 statt 1700 Euro

Hubertus Heil hat das im Eilverfahren umgesetzt, er ist der einzige Minister, der im gleichen Amt verblieben ist – und entsprechend als „sichere Bank“ in diesen unsicheren Zeiten gilt, wie es einer aus der SPD-Fraktion formuliert. Heil betont, wer bisher bei einer mit Mindestlohn vergüteten Vollzeitstelle 1.700 Euro bekommen habe, verdiene dank des Anstiegs auf 12 Euro ab Oktober 2100 Euro.

Das sei für viele Menschen eine spürbare Verbesserung angesichts der derzeitigen Preissteigerungen. Er betont, rund sechs Millionen Menschen würden von der Erhöhung des Mindestlohns profitieren, vor allem Frauen und Beschäftigte in Ostdeutschland. Zugleich steigt die Grenze für Minijobs im Oktober von 450 auf 520 Euro.

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Entwicklung des Mindestlohns seit 2015.
Entwicklung des Mindestlohns seit 2015.

© dpa

Warum die Union das Projekt ablehnt

Nach der einmaligen, außerplanmäßigen Erhöhung soll für die Festsetzung der Lohnuntergrenze wieder wie bisher die Mindestlohnkommission aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zuständig sein. Mehr als 12 Euro soll es dann voraussichtlich ab 1. Januar 2024 geben. Die Union hat das Projekt in eine missliche Lage gebracht.

Durch die höchste Inflation seit 50 Jahren mit einer Teuerung von knapp acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr ist die reale Erhöhung längst nicht mehr so groß, wie sie im Wahlkampf sich andeutete. Und die Union hat erkannt, dass sie ihren Markenkern der sozialen Marktwirtschaft verloren und wiederbeleben muss, auch als Lehre aus dem SPD-Erfolg. Doch obwohl sie die Höhe von zwölf Euro inzwischen unterstützt, hat sie nicht dafür gestimmt, sondern sich enthalten.

Der CDU-Sozialpolitiker und stellvertretende Fraktionsvorsitzende Hermann Gröhe begründete das mit dem Entmachten der Mindestlohnkommission. Man werde die Hand nicht für die „Entmündigung der Sozialpartner“ reichen. Aber die Debatte wurde auch geprägt von der Frage, ob die bisher getroffenen Entlastungsmaßnahmen ausreichen.

Bundesarbeitsminister, Hubertus Heil (SPD), zur Mindestlohnerhöhung.
Bundesarbeitsminister, Hubertus Heil (SPD), zur Mindestlohnerhöhung.

© IMAGO/Metodi Popow

47 Prozent der Bürger schränken sich wegen Inflation bereits ein

Die SPD-Abgeordnete Dagmar Schmidt betonte: „Viele müssen sich die Frage stellen, ob das Geld noch für Obst, die Reise zur Oma, den Schulausflug reicht.“ Die Linken-Haushaltsexpertin Gesine Lötzsch sagte: „Eigentlich müssten es jetzt schon 13 Euro sein.“

Dem „ARD-Deutschlandtrend“ zufolge müssen sich 47 Prozent der Deutschen wegen der Preisentwicklung im Alltag schon jetzt sehr stark oder stark einschränken.

Vor allem Haushalte mit geringem Einkommen (77 Prozent) sowie Bürgerinnen und Bürger aus Ostdeutschland  (59 Prozent) sehen sich zum Verzicht gezwungen. Und der Staat wird die Folgen nicht auf Dauer ausgleichen könne, es wird Wohlstandsverluste geben.

Für fünf Milliarden schafft die Bundeswehr 60 Transporthubschrauber des Typs Chinook CH-47F an.
Für fünf Milliarden schafft die Bundeswehr 60 Transporthubschrauber des Typs Chinook CH-47F an.

© dpa

100 Milliarden für die Bundeswehr

Es mag sich paradox anhören, aber auch mit Blick auf das am Freitag vom Bundestag ebenfalls beschlossene Sondervermögen wird von Verteidigungspolitikern gefragt: Reicht das? Denn je nach Entwicklung des Ukraine-Kriegs und der russischen Bedrohung ist ungewiss, ob die per Grundgesetzänderung mit der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit von SPD, Grünen, FDP und Union (mit einigen Gegenstimmen in der Ampel-Koalition) beschlossene Auf- und Ausrüstungsoffensive reichen wird. Aber Kanzler Olaf Scholz hat hier das zentrale Zeitenwenden-Projekt erst einmal unter Dach und Fach, die Woche war für ihn eine der Besseren.

Die Union hat durchgesetzt, dass das Geld nur für die Bundeswehr ausgegeben wird. Für allein fünf Milliarden Euro sollen 60 Transporthubschrauber des US-Herstellers Boeing gekauft werden. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) hat die Beschaffung des Modells CH-47F Chinook in der Version mit Luftbetankungsfähigkeit verfügt.

40 Milliarden für Luft-Projekte, 20 Milliarden für Kommunikation

Allerdings zeigt der Wirtschaftsplan für die Ausgaben der Milliarden auch, dass sie schnell weg sein können. F-35- Kampfjets werden als Nachfolger für die veralteten Tornados ebenfalls in den USA gekauft, sie können mit in Deutschland gelagerten US-Atomwaffen bestückt werden; mit rund 40 Milliarden Euro ist der größte Teil für Luft-Projekte verplant.

Für die Marine sollen fünf Seefernaufklärer P-8 Poseidon gekauft werden. Ein weiterer großer Teil des Geld – rund 20 Milliarden geht in die Erneuerung und Digitalisierung der Kommunikation; so wird auch die Satellitenkommunikation SATCOMBw ausgebaut. Noch unklar ist, ob auch für Städte wie Berlin ein Luftabwehrsystem zur Debatte stehen könnte.

Was passiert, wenn das Sondervermögen aufgebraucht ist?

Die Bundeswehr werde „die größte, konventionelle Armee im europäischen Nato-System“, verspricht Scholz. Doch das Sondervermögen wird angerechnet auf den Verteidigungshaushalt – ist es aufgebraucht, muss allein über den Haushalt das vereinbarte Ziel von zwei Prozent Verteidigungsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt erzielt werden – das wären derzeit 70 Milliarden Euro der Verteidigungshaushalt hat im laufenden Jahr rund 50 Milliarden.

Rechnet man mit der Differenz von 20 Milliarden, wäre das Sondervermögen in fünf Jahren verbraucht. Woher dann die zusätzlich rund 20 Milliarden Euro kommen sollen, ist eine bisher völlig offene Frage, wegen der Zwänge der Schuldenbremse müsste dann an andere Stelle, etwa bei den Sozialausgaben kräftig gekürzt werden.

Den großen Rahmen für alle Maßnahmen bildet der ebenfalls am Freitag beschlossene erste komplette Bundeshaushalt der Ampel-Koalition. Zunächst setzte der Bundestag das dritte Jahr in Folge den Schuldendeckel auf. Mit der Kanzlermehrheit von SPD, Grünen und FDP wurde die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse wieder ausgesetzt, um für 2022 zusätzliche Schulden von knapp 139 Milliarden Euro machen zu können.

Der Kanzler stimmt für sein zentrales Zeitenwenden-Projekt: 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr.
Der Kanzler stimmt für sein zentrales Zeitenwenden-Projekt: 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr.

© Michael Kappeler/dpa

Das Kanzleramt spart etwas ein, plant aber einen Neubau

Die nach der Schuldenbremse zulässige Kreditaufnahme (0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) wird damit um rund 115,7 Milliarden Euro überschritten. Das Grundgesetz erlaubt dies in einer

„außergewöhnlichen Notsituation“. Begründet wird diese mit der Bewältigung der Corona-Pandemie und den Folgen des Ukraine-Krieges. Immerhin spart das Kanzleramt durch die Abgabe einiger Zuständigkeiten, etwa im Bereich Digitalpolitik, einiges ein.

Veranschlagt werden 3,697 Milliarden Euro, gegenüber rund 4,647 Milliarden im Vorjahr, also fast eine Milliarde weniger. Aber neue Kostenrisiken sind zum Beispiel der geplante Erweiterungsbau für das Kanzleramt. Dank der gesunkenen Ausgaben etwa für Kurzarbeit können auch beim größten Posten im Bundeshaushalt – Arbeit und Soziales – fast fünf Milliarden  eingespart werden, während andere Bereiche wie Verteidigung deutlich zulegen bei den Ausgaben. 

Lässt sich die Schuldenbremse 2023 einhalten? Finanzminister Christian Lindner und Kanzler Olaf Scholz.
Lässt sich die Schuldenbremse 2023 einhalten? Finanzminister Christian Lindner und Kanzler Olaf Scholz.

© REUTERS

Der dickste Posten macht 160 Milliarden aus

Die Umschichtungen sind auch Ausdruck der Zeitenwende. Im Einzelplan des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sind nun Ausgaben in Höhe von rund 160 Milliarden Euro geplant, das macht 35 Prozent der Gesamtausgaben des Bundeshaushaltes aus. Aber auch hier schwebt über allem die Frage „Reicht das“ oder besser: „Kann das klappen“?

Gemeint ist die von Finanzminister Christian Lindner geplante Radikalkur, trotz aller Inflationsrisiken und Wägbarkeiten hat er diese Woche das Einhalten der Schuldenbremse ab 2023 für „nicht verhandelbar“ erklärt.

Lässt sich die Schuldenbremse wirklich wieder einhalten

Einige fürchten schon, daran könnte die Koalition zerbrechen. „Das Portemonnaie bestimmt die Stimmung“, betont der Demoskop und „Insa“-Chef Hermann Binkert. „Vor allem die Klientel der SPD, die sogenannten kleinen Leute, erwarten von der Regierung weitere Entlastungen. Teure Ausgabenprogramme wie etwa das von Arbeitsminister Hubertus Heil geforderte Klimageld dürften mit der FDP von Finanzminister Lindner aber kaum zu machen sein.“ Er sieht hier schwere Zeiten auf die Ampel-Koalition zukommen.

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