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Die Taliban - hier ein Foto aus dem Juni - erobern immer mehr Territorium.

© Parwiz/Reuters

Der Fall von Ghazni: Die Taliban in Afghanistan lassen sich nicht stoppen

Die Islamisten kontrollieren nun Ghazni in Zentralafghanistan. Der Fall der strategisch wichtigen Stadt verdeutlicht die Sicherheitslage.

„Unsere Stadt ist abgebrannt, unser Haus ist abgebrannt, wir haben alles verloren“, klagt Fatima im afghanischen Sender Tolo TV. „Was müssen wir tun, damit die Regierung uns hört?“ Tagelange hatte die afghanische Regierung in Kabul erklärt, in Ghazni sei alles unter Kontrolle.

Doch diejenigen Einwohner, die wie Fatima aus der Provinzstadt knapp 150 Kilometer entfernt nach Kabul fliehen konnten, zeichneten ein anderes Bild. Horrorgeschichten einer belagerten Stadt ohne Wasser, Strom und Nahrung, wo Menschen wegen der heftigen Kämpfe Verwundeten nicht ins Krankenhaus bringen können und niemand die Leichen barg, während Taliban-Kämpfer von Haus zu Haus gingen, um jeden zu erschießen, der auch nur unter Verdacht stand, auf Seiten der Regierung zu sein.

Fatima war am Sonntag die Flucht aus der Stadt gelungen. Sie und ihre Familie mussten sich über kleine Straßen durch gefährliche Gebiete durchschlagen, wo die Taliban und Regierungstruppen sich heftige Kämpfe lieferten. Die Taliban hatten die wichtigsten Zufahrtswege nach Ghazni vermint, um Armee und Polizei den Nachschub abzuschneiden. Mehr als 1000 Taliban-Kämpfer hatten am Freitagmorgen die Stadt mit ihren 270.000 Einwohnern gestürmt und alles bis auf wenige Gebäude eingenommen.

Bewohner berichten von mindestens 100 toten Zivilisten

Auch am Dienstag gingen die Kämpfe weiter, besonders in den Außenbezirken der Stadt. Einwohner berichteten, mehr als 100 Tote seien in das Krankenhaus gebracht worden, dort würden zudem mehr als 200 Verletzte behandelt. Das Innenministerium bestätigte den Tod von 100 Polizisten. Die Militärführung in Kabul machte keine Angabe zu Verlusten, sie behauptete nur, mehr als 200 Taliban-Kämpfer seien getötet worden.

Die Vereinten Nationen äußerten sich besorgt über die Situation der Zivilbevölkerung. „Einwohner von Ghazni müssen mit ansehen, wie ihre Stadt sich seit Freitag in ein Schlachtfeld verwandelt hat“, erklärte der Koordinator für Humanitäre Angelegenheiten, Rik Peeperkorn.

Doch nicht nur in Ghazni zeigten die Taliban ihre Stärke: Am Sonntag überrannten sie auch den Ajristan-Distrikt, 100 Kilometer westlich von Ghazni Stadt. Mehr als 100 Soldaten einer Spezialeinheit werden seither vermisst, die meisten sind vermutlich tot. Am Montag stürmten Taliban-Kämpfer eine Militärbasis in Ghormach, im Nordwesten des Landes. Tagelang hatten die belagerten Soldaten die Armeeführung in Kabul vergeblich um Verstärkung angefleht. Mindestens 43 Soldaten kamen ums Leben, mehr als ein Dutzend wurde als Geiseln genommen.

Dass es den Taliban gelingen konnte, Ghazni so einfach zu überrennen, ist eine bedenkliche Entwicklung. Die Stadt, 150 Kilometer südwestlich von Kabul, liegt auf der wichtigen Verbindungsstraße zwischen Kabul und Kandahar im Süden. Wer Ghazni kontrolliert, kann somit Kabul von den Südprovinzen abschneiden.

Der Sturm von Ghazni zeigt, wie schnell seit dem Ende der Nato-Kampfmission im Dezember 2014 die afghanische Regierung Territorium verliert: 2015 und 2016 musste sie mitansehen, wie die Taliban die nordafghanische Stadt Kundus einnahmen. In beiden Fällen konnte Kundus nur durch US-Luftangriffe wiedererobert werden. Auch in Ghazni ist es diesmal nicht anders. Wie die afghanische Regierung spielen auch die USA die Gewinne der Aufständischen dabei herunter: Die Taliban seien „verzweifelt“ und würden „Gebiete verlieren“, heißt es stets. Doch die Realität sieht anders aus.

Verhandlungen über neue Waffenruhe laufen

Dabei kam der Sturm von Ghazni nicht überraschend. Ähnlich wie im Fall von Kundus hatten Provinzpolitiker und Regierungsvertreter vor Ort lange davor gewarnt. Der ehemalige Chef des Nachrichtendienstes, Assadullah Khalid, kritisierte, der Hauptgrund für den Fall von Ghazni an die Taliban sei die Nachlässigkeit der Sicherheitskräfte. Tagelang sei keine militärische Verstärkung geschickt worden, so Khalid. Stattdessen habe die Regierung den Ernst der Lage verschwiegen.

Dies alles hat zu Spekulationen geführt, dass die Regierung Ghazni und die gesamte Provinz den Taliban überlassen will. Die Taliban kontrollieren bereits 15 von 18 Distrikten in der Provinz.

Im Moment verhandelt die Regierung mit den Taliban über einen neue Waffenruhe. Anders als bei den zahlreichen gescheiterten Versuchen zuvor, gibt es diesmal sogar einen Hauch von Optimismus, denn die Taliban hatten im Juni einer dreitägigen Kampfpause zum Ende des Fastenmonats Ramadan zugestimmt. Zudem verhandeln die Taliban auch mit den direkt USA im Wüstenemirat Qatar über einen möglichen Friedensschluss.

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