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Stephan B. an seinem Auto in Halle.

© Andreas Splett / ATV-Studio Halle / AFP

Update

Der Anschlag von Halle: Rechtsterrorismus, inszeniert wie ein Computerspiel

Der Täter von Halle radikalisierte sich online. Warum die Sicherheitsbehörden das virtuelle Netz der Rechtsterroristen zu wenig im Blick haben. Eine Analyse.

Es war alles vorbereitet. So wie bei anderen rechtsterroristischen Attentätern. Ein elfseitiges Manifest hat Stephan Balliet, der Attentäter von Halle, verfasst. Darin beschreibt er seine Waffenausrüstung, die Schrotflinten und Maschinenpistolen, die er nach Tagesspiegel-Informationen mit einem 3D-Drucker anfertigte. Anleitungen sind im Netz für genau jene Waffentypen zu finden, die er nutzte. Dass diese Selbstbauten höchst anfällig sind, war ihm bewusst. In dem Manifest beschreibt er die Mängel der Waffen, zudem die selbst gebauten Granaten, Nagelbomben und ein Schwert.

Dann beschreibt er seine geplante Tat, die er später live im Internet streamen wird.

Alles deutet darauf hin, dass Balliet sich online radikalisiert hat. Dass er auf Plattformen von Kriegsspielen, in Gamer-Gruppen und Imageboards unterwegs war, dass er ein sogenannter „Chan“ war. „Chans“ sind Nutzer und Teilnehmer von Online-Foren, in denen vornehmlich Jungen und Männer sozialisiert und radikalisiert werden, wo gegen Juden, Muslime, Frauen und Schwule gehetzt wird.

„Chans" verehren den norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik und den Christchurch-Terroristen Brenton Tarrant. Oft sind es Männer, die sonst wenig Erfolg im Leben und bei Frauen haben, die ihren Hass auf sich, auf die Frauen, auf Minderheiten in ihrer Netzwelt kanalisieren und irgendwann eine reale Tat begehen.

Es ist eine andere Form des Rechtsterrorismus. Auch wenn die Behörden formal von einem Einzeltätern sprechen; für Experten ist es längst ein virtuell vernetzter Rechtsterrorismus - weltweit. Wenn Polizei und Verfassungsschutz wie im Fall von Balliet bislang keine Erkenntnisse hatte, Balliet bislang nicht aufgefallen war, heißt das auch: Die Sicherheitsbehörden haben das virtuelle Netz der Rechtsterroristen zu wenig im Blick.

Am Donnerstag wurde der Tatverdächtige zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe gebracht.
Am Donnerstag wurde der Tatverdächtige zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe gebracht.

© Yann SCHREIBER/AFP

Die Generation Internet findet neue Formen des Rechtsterrorismus, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen. Das Attentat wird am Computer einstudiert, die Community liefert den ideologischen Überbau.

Auch andere Anschläge der vergangenen Jahre in den USA, in Norwegen und Deutschland zeigen, wie sich diese Entwicklung fortsetzt: David Sonboly 2016 in München, William Atchison 2017 in einer Schule in Aztec (New Mexico), John Ernest beim Anschlag auf eine Synagoge 2019 in Poway (Kalifornien) und Patrick Crusius in El Paso (Texas), Philip Manshaus im August 2019 an einer Moschee in Norwegen. Einige von ihnen waren untereinander vernetzt.

Anhänger der Attentäter legen Highscore-Listen an

Sie alle inszenierten ihre Attentate als Ego-Shooter-Event, live übertragen ins Internet, was in einigen Fällen scheiterte. Die Anhänger in den Foren haben Highscore-Listen angelegt - Breivik steht auf Platz eins, Tarrant auf Platz vier. Und Tarrant wird in der Szene verehrt wie ein Heiliger - weil er mit der Live-Übertragung seines Attentates in Christchurch den rechtsextremistischen Ego-Shooter im „real life“ perfektioniert hat.

Balliet bezieht sich in dem Video, das er von dem Attentat live ins Netz übertrug auf „Anonymous“. Damit sind die Nutzer sogenannter Imageboards im Internet gemeint, wo der anonyme Austausch möglich ist. Balliet richtet sich direkt an die Gamer-Community.

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35 Minuten lang ist das Video, das der Attentäter über einen Stream ins Internet übertrug und das sich über mehrere Kanäle verbreitet hat. Auch wenn es auf dem Portal Twitch gelöscht wurde – es ist längst auf anderen Portalen und in Telegram-Kanälen abrufbar.

Die erste Erkenntnis aus dem Video: Wäre der Täter professionell bewaffnet gewesen, hätte er ein Blutbad anrichten können. Zu Beginn des Videos ist zunächst nicht viel zu sehen. Es ist zu hören wie der Täter damit zu tun hat, den Stream in Gang zu bringen. Als dann alles läuft, setzt er sich einen Militärhelm auf dem Kopf.

Der Stream wird über eine Handy-Kamera übertragen, das Handy ist am Helm befestigt. Dann sein Bekenntnis auf Englisch, denn solche Rechtsterroristen suchen ihr Publikum in ihrer weltweiten Gamer-Community von Rechtsterroristen, Antisemiten und Frauenhassern: Er nennt sich Anon, die in Netzjargon üblich anonyme Selbstbezeichnung, leugnet den Holocaust, macht den Feminismus für die Masseneinwanderung verantwortlich - und am Ende seien die Juden an allem schuld.

Auch das elfseitige Manifest des Täters ist auf Englisch verfasst. Typisch für die Szene: So sollen Nachahmer weltweit inspiriert werden. Detailliert beschreibt er die Waffen, seine Granaten, Fotos sind abgebildet – es ist wie im Computerspiel: Der Gamer präsentiert sein Arsenal.

Er kommentiert seine Tat wie ein Spiel

Auf den Seiten dahinter formulierte Balliet seine Ziele: „Erhöhen der Moral anderer unterdrückter Weißer, in dem Sie das Kampfmaterial verbreiten“, „töte so viele Anti-Weiße wie möglich, Juden bevorzugt“ und als Gamer: „Bonus: Stirb nicht“. Dann breitet Balliet seinen ganzen antisemitischen Vernichtungswahn aus.

Eigentlich habe er vorgehabt, eine Moschee oder ein Antifa-Zentrum zu stürmen, weil diese weniger geschützt seien als eine Synagoge. Aber das würde keinen Unterschied machen, weil hinter getöteten „100 Golems“ ohnehin die Juden stehen würden. Balliet greift auch das antisemitischen Erzählmuster von der „zionistisch besetzten Regierung“ auf. Für ihn sei es wert zu sterben, wenn er dabei nur einen einzigen Juden töte.

Der Mann fährt mit seinem Golf los, im Autoradio läuft Hip-Hop-Musik. Er fährt nur wenige Minuten, dann schaltet er das Radio aus, steht an einer Kreuzung. Und dann sagt er: „Lass die Tür offen sein“. Er fährt über die Kreuzung, sieht, dass die Tür nicht offen ist, er steigt aus und rüttelt an mehreren Türen, alle sind verschlossen. „Scheiße drauf, spreng ich mich halt rein“, sagt er.

„Einmal Verlierer, immer Verlierer“

Er flucht, geht zu seinem Auto und holt selbst gebastelte Sprengsätze heraus. Mit einem davon will er eine Tür aufsprengen. Doch das misslingt. Eine Passantin kommt vorbei und beschwert sich, warum er das tun müsse, wenn sie gerade dort entlang komme. Sie geht weiter, er folgt ihr in wenigen Schritten und erschießt sie mit mehreren Schüssen in den Rücken.

Balliet wirft weitere Sprengsätze über die Mauer, feuert mit einer selbst gebauten Schrotflinte auf eine Tür, doch er bekommt sie nicht auf. Immer wieder flucht er: „Scheiß drauf, vielleicht kommen sie ja raus“. Er ist so wütend, dass er erneut mehrere Schüsse aus einer selbst gebastelten Maschinenpistole auf die neben seinem Auto liegende Leiche feuert, dabei beschimpft er die getötete Frau als „Schwein“. Ein Schuss trifft auch einen Reifen seines Autos.

Er steigt in den Wagen, flucht über die Juden. „Hundert Prozent Fail“, sagt er. „Und sorry Guys“. Balliet richtet sich also über den Stream an seine Gamer-Community und entschuldigt sich für sein Versagen: „Einmal Verlierer, immer Verlierer.“

Balliet sucht sich andere Opfer: „Dann eben die Kanaken“, sagt er, fährt ein paar Straßen weiter und entdeckt einen Dönerladen: „Döner, nehmen wir.“ Balliet wirft einen Sprengsatz zum Laden, doch der prallt vom Türrahmen ab. Ein Passant flüchtet in den Laden. Dort befinden sich dann zwei Männer, einer flüchtet in einen Hinterraum, ein anderer versteckt sich hinter Getränkekühlschränken.

Die offenbar aus Bausätzen gefertigte Maschinenpistole hakt, hat Ladehemmungen, sie schießt nicht. „Fresse Mann“, brüllt Balliet und feuert schließlich eine Schrotkugel auf den Mann hinter den Kühlschränken ab. Er geht zurück zu deinem Auto auf der anderen Straßenseite, holt eine andere Waffe und schimpft in Gamer-Sprache wie in einem Egoshooter-Spiel über seine Waffen. Erneut feuert er mit der Schrotflinte auf Passanten. Doch die können rechtzeitig fliehen.

Er geht noch einmal in den Dönerladen und schießt mit der Schrotflinte auf den bereits angeschossenen Mann. „Der lebt doch noch“, sagt er und drückt ab, nicht nur einmal. Er geht zurück zum Auto, fährt los und stoppt erneut in Höhe des Dönerladens, schießt erneut auf Passanten und verfolgt sie zu Fuß, schließlich entdeckt er einen Polizeiwagen.

Er sucht Schutz hinter seinem Wagen und schießt mehrfach mit der Schrotflinte in Richtung Polizei. Dann ist ein anderer Schuss zu hören. Er kommt offenbar aus einer Dienstwaffe eines Polizisten. Der Täter flüchtet sich in sein Auto und fährt los. Nimmt bei der Fahrt den Helm ab, das Video geht weiter. Mehrfach bezeichnet sich der Mann selbst als Verlierer, er sei das beste Beispiel dafür, dass improvisierte Waffen nichts taugen: „I am a complete Loser.“

Ziele gesetzt wie ein Gamer

Und er sagt, dass er angeschossen worden und am Hals verletzt sei. Nach 28 Minuten wirft er das Handy aus dem Autofenster, es landet auf der Straße. Die Kamera zeichnet weiter auf, wie Autos über das Handy weg fahren.

In seinem Manifest formulierte Balliet wie für ein Computerspiel mögliche Erfolge, also Achievements. Für Achievements gibt es Ansehen, die sollen eine besondere Motivation darstellen. Für sein Vorhaben in Halle war als erstes Achievement verzeichnet, das Manifest ins Internet zu laden. Titel dieses Erfolges: „Kein Weg zurück.“

Als andere mögliche Erfolge verzeichnet Balliet, Juden zu töten, jeweils mit verschiedenen Waffen, mit Granaten, eine Synagoge und eine Moschee niederzubrennen, einen Kommunisten zu töten, Personen mit einem Schwert oder einer Nagelbombe zu töten. Doch in den Foren der rechtsextremen Gamer-Szene wird B. verspottet für seinen Misserfolg und die „niedrige Punktzahl“ im Stream.

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