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Joachim von Ribbentrop (links), Josef Stalin (Mitte) und Wjatscheslaw Molotow (rechts) am 23. August 1939 im Kreml.

© AFP

Den Opfern von Stalinismus und Nationalsozialismus: Ein Gedenktag, der verschwiegen wird

Der 23. August ist der „Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“. So hat es das Europäische Parlament beschlossen. Deutschland aber tut sich schwer damit. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Steht die deutsche Fixierung auf Auschwitz einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur im Wege? Die Frage zu stellen, ruft rasch den Vorwurf hervor, die Singularität des Völkermordes an den Juden zu leugnen, das Verbrechen selbst zu verharmlosen. Dabei nährt sich auch in diesem Jahr der Verdacht, der in dieser Frage zum Ausdruck kommt, aus der traurigen Beobachtung, dass es seit sieben Jahren einen vom Europäischen Parlament beschlossenen Gedenktag gibt, der bis heute praktisch totgeschwiegen wird. Offiziell nämlich ist der 23. August der „Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“.

Am 23. August 1939 unterzeichneten in Moskau die Außenminister des „Dritten Reiches“ und der Sowjetunion, Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow, einen Nichtangriffsvertrag, den Hitler-Stalin-Pakt. Er erlaubte es Hitler, am 1. September 1939 den Aggressionskrieg gegen Polen zu beginnen, das Land mit der größten jüdischen Bevölkerung in Europa. Am 17. September folgte Stalin und überfiel mit der Roten Armee den Osten Polens. In der Mitte des Landes trafen sich die Verbündeten dann zu einer gemeinsamen Siegesparade. Rund 200.000 polnische Zivilisten wurden von 1939 bis 1941 von Wehrmacht und Roter Armee ermordet. Außerdem durfte Stalin durch den Pakt auf Finnland, Estland und Lettland zugreifen.

Das erklärt, warum der Zweite Weltkrieg aus russischer Perspektive erst mit dem „Unternehmen Barbarossa“, dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941, begann. Wer den Stalin’schen Begriff vom „Großen Vaterländischen Krieg“ verwendet, denkt als Anfang und Ende die beiden Jahreszahlen 1941 und 1945 mit. Auch in Deutschland, wo Analogien von Genoziden und totalitären Herrschaftsformen aus Angst davor, als Kalter Krieger oder Aufrechner zu gelten, gerne vermieden werden, passen weder der Hitler-Stalin-Pakt noch das Gedenken an die Opfer kommunistischer Verbrechen ins Bild. Entsprechend lange hat es gedauert, bis das deutsche Holocaust-Gedenken nicht mehr synonym mit der Chiffre „Auschwitz“ war, sondern auch andere Opfergruppen als die der Juden mit einschloss – Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte, Zeugen Jehovas.

Der Versuch einer gesamteuropäischen Erinnerung

Es hat ebenfalls lange gedauert, bis es möglich wurde, auch andere Völkermorde als solche zu bezeichnen. Vor einem Jahr begründete Außenminister Frank-Walter Steinmeier seine Weigerung, das Massaker an den Armeniern 1915 einen Genozid zu nennen, mit einem rein gedenktaktischen Motiv: „Wir müssen in Deutschland aufpassen, dass wir am Ende nicht denen recht geben, die ihre eigene politische Agenda verfolgen und sagen: Der Holocaust hat eigentlich vor 1933 begonnen.“

Der „Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ ist der Versuch einer gesamteuropäischen Erinnerung an die prägenden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Er verdrängt nicht den 27. Januar als Internationalen Gedenktag an die Opfer des Holocaust, sondern ergänzt diesen.

Als Gründungsdokument gilt die „Prager Erklärung zum Gewissen Europas und zum Kommunismus“. Sie wurde im Juni 2008 von mehreren europäischen Politikern – darunter Joachim Gauck, Vaclav Havel und Vytautas Landsbergis – sowie überwiegend osteuropäischen Intellektuellen, Historikern und Dissidenten unterzeichnet. In den baltischen Staaten, Bulgarien, Kroatien, Polen, Ungarn und Slowenien wird der Gedenktag begangen. In Polen, Tschechien und Ungarn steht – analog zum deutschen Holocaust-Leugnungs-Verbot – auch die Leugnung, Billigung oder Rechtfertigung kommunistischer Verbrechen unter Strafe.

In Deutschland dagegen wird die Vergegenwärtigung kommunistischer Verbrechen sowie das ehrende Gedenken an die Opfer von Gulag, Holodomor und sowjetischer Oppression oft mit der doppelten Replik – Auschwitz-Relativierer und/oder militanter Russenfeind – mundtot gemacht. Bis heute gibt es kein zentrales Denkmal für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft.

Und die Veranstaltungen zum Jahrestag des 23. August beschränkten sich auf dies: In Berlin, Kranzniederlegung und Ansprache von Hubertus Knabe, Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen; in Halle, Informationsveranstaltung in der Gedenkstätte „Roter Ochse“ mit einem Vortrag des Kollegen von der „Welt“, Sven Felix Kellerhoff; in Potsdam, Gedenkfeier in der Begegnungsstätte Leistikowstraße mit einem Festvortrag von Bürgerrechtler Wolfgang Templin. Mehr ergab die Suche nicht.

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