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Artilleriegeschütze der türkischen Streitkräfte werden an ihre neuen Positionen nahe der Grenze zu Syrien gebracht.

© dpa

Update

Demonstration neuer US-Politik in Syrien: Ermöglichen die USA einen türkischen Einmarsch in die Kurdenregion?

Eine türkische Invasion in Syriens Grenzgebiet steht unmittelbar bevor. Wer in diesem Konflikt für welche Interessen kämpft.

Panzer, Artilleriegeschütze und Soldaten sind schon in Stellung: Nahe Akcakale an der türkisch-syrischen Grenze hat Recep Tayyip Erdogan seine Armee aufmarschieren lassen. Seit Tagen kündigt der türkische Präsident an, er schicke seine Truppen in die syrische Kurdenregion – nun steht der Einmarsch möglicherweise unmittelbar bevor. Am Montag zogen die US-Soldaten aus ihren Positionen auf der syrischen Seite ab – die Regierung Donald Trumps erklärte, sie würden ihre kurdischen Verbündeten nicht mehr gegen die Türkei verteidigen. Dann begönne ein neues Kapitel im achtjährigen Syrienkrieg, einstige Feinde haben sich im Kampf gegen die kurdische Autonomiezone in Nordsyrien geeinigt.

Der US-Rückzug aus Tel Abiad – auf der syrischen Seite bei Akcakale – und aus Ras al-Ayn – nahe dem türkischen Ceylanpinar – ist mehr als die Verlegung von einigen hundert Soldaten. Er demonstriert die Neuausrichtung der US-Syrien-Politik. Auch wenn Spitzenpolitiker in Washington ihrem Präsidenten widersprechen und Trump drohte, die „türkische Wirtschaft vollständig zerstören“, sollte Erdogan „Tabus“ verletzen – die in Syrien verbliebenen US-Soldaten will er nach Hause bringen und so seine Chancen bei der Wahl 2020 verbessern.

Türkei orientiert sich nach Osten - zu Russland und dem Iran

Das Vakuum soll die Türkei füllen, die sich derweil vom Westen politisch entfernt und östlichen Regimes angenähert hat. So hatte sich Erdogan mit den Schutzmächten des syrischen Herrschers Baschar al Assad geeinigt. Lange galten Erdogan und Assad als Erzfeinde, denn Erdogan rüstete Anti-Assad-Rebellen aus. In diesem Jahr aber hat sich der türkische Staatschef endgültig mit Assads Schutzmächten Russland und Iran geeinigt – denn die Kurden stören die Pläne von vier Mächten gleichermaßen: Türkei, Syrien, Irak, Iran – jedes Land mit eigener kurdischer Minderheit.

Syriens Zentralregierung in Damaskus möchte wieder das ganze Land kontrollieren. Assad hatte Verhandlungen mit dem oppositionellen Demokratischen Syrien-Rat (oft SDC abgekürzt) abgelehnt, dem auch die nordsyrischen Kurden der bekannten YPG-Miliz und das bislang von den USA unterstützte multiethnische Militärbündnis SDF angehören. Die iranischen Mullahs wiederum wollen einen schiitisch-kontrollierten Korridor von Teheran bis nach Israel. Im Irak kommandieren die Mullahs verbündete Milizen, in Syrien auch – die säkulare Autonomiezone der Kurden stört noch.

Türkische Armee will 30 Kilometer tief nach Syrien vordringen

Erdogans geplanter Einmarsch richtet sich gegen die Kurdenmiliz YPG, die von der Türkei als Bedrohung der nationalen Sicherheit betrachtet wird, weil sie der auch in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK nahe steht. Die türkische Armee will auf breiter Front bis zu 30 Kilometer tief nach Syrien vordringen. Wie berichtet, will Erdogan die YPG aus dem Grenzgebiet vertreiben und syrische Araber, die einst in die Türkei flohen, dort ansiedeln. Dabei sollen Ankara-treue Islamisten mitwirken. Deutsche Sicherheitsbeamte, US-Beobachter und kurdische Funktionäre sagen gleichermaßen, dass sich unter den türkischen Verbündeten zahlreiche Islamisten befinden. So sollen Ex-IS-Kämpfer und Terroristen aus dem Kaukasus schon im Januar 2018 beim türkischen Einmarsch in der syrischen Kurdenprovinz Afrin dabei gewesen sein.

Die Türkei habe „kein Interesse an einer Besetzung“ oder daran, demografische Realitäten zu verändern, teilte Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin mit. Stattdessen wolle Ankara mit einer 500 Kilometer langen und 30 Kilometer breiten Pufferzone die türkische Grenze sichern, „indem terroristische Elemente eliminiert“ – gemeint sind die YPG-Kurden – würden. Zudem sollen Syrer aus der Türkei „in ihre Heimat zurückzukehren“, sagte Kalin. In der Türkei leben derzeit 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge. Erdogan steht dort unter Druck. Nach den unter anderem in Istanbul und Ankara verlorenen Kommunalwahlen und einer Wirtschaftsflaute gilt er als angeschlagen. Der Unmut in der Bevölkerung über die syrischen Flüchtlinge wächst.

Erdogan spaltet die Opposition in der Türkei

Ein Krieg gegen die Kurden aber spaltet die erstarkte Opposition aus der kemalistischen CHP und der linken HDP. Die CHP dürfte einen Krieg unterstützen, zumindest aber nicht bekämpfen. Die prokurdische HDP ist klar dagegen. Ihre gewählten Bürgermeister werden von Erdogan seit Jahren abgesetzt, Aktivisten verhaftet und Parteibüros geschlossen.

Trump hatte schon im Dezember den Rückzug der damals 2000 US-Soldaten aus Syrien verkündet, war aber in der eigenen Regierung damit aber auf Widerstand gestoßen. Die Folge war ein langsamer Truppenabbau – und eine wachsende Verärgerung der Türkei. Jetzt könnte Erdogan von Trump bekommen haben, was er wollte. Der US-Präsident will sich als Sieger über den IS feiern lassen, ohne für die weiteren Entwicklungen verantwortlich zu sein.

Eine US-Zustimmung zu Erdogans Plänen wird weitreichende Folgen für künftige Bündnisse haben. Die YPG hatte mit den USA gegen den IS gekämpft und tausende Männer und Frauen durch Gefechte, Entführungen und Folter verloren. Amerika habe sich nicht an seine Verpflichtungen als Partner gehalten, erklärte die von den YPG-Kurden dominierte Streitmacht SDF am Montag.

Assad will ganz Syrien - ohne kurdische Autonomie

Besonders verbittert die Kurden, dass sie in den vergangenen Wochen viele ihrer Verteidigungsstellungen an der türkischen Grenze zerstört hatten, weil die USA erklärten, durch dieses „Abrüsten“ werde ein türkischer Einmarsch abgewendet. So steht die YPG, die der modernen Armee der Türkei ohnehin kaum etwas entgegenzusetzen hat, vor der anstehenden Intervention zusätzlich geschwächt da. Die YPG-Kurden könnten nun versuchen, mit der syrischen Zentralregierung in Damaskus zu verhandeln. Assad will die seit Kriegsbeginn verlorene Kontrolle über die Gebiete östlich des Euphrats von den Kurden zurück.

Derzeit sieht es danach aus, als könne sich Erdogan auf Assad verlassen. Der Wunsch des syrischen Herrschers, die kurdischen Abtrünnigen zu bestrafen, ist groß. Zudem hat Erdogan die islamistischen Anti-Assad-Aufständischen im westsyrischen Idlib fallen gelassen, um vom syrischen Regime indirekt die Erlaubnis zu erhalten, die Kurden in Nordsyrien anzugreifen. Vertreter der syrischen Kurden sagten, eine Allianz mit Assad sei unwahrscheinlich.

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