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© Reuters

Debattenkultur: 2016 hat gezeigt: Der Diskurs ist kaputt

Nie wurde so viel geredet und nie war so wenig Verständigung. Als informationelle Einzelgänger aber sind wir blind - nicht nur, wenn es um das Flüchtlingsthema geht. Ein Essay.

Ein Essay von Anna Sauerbrey

Ein Rückblick im Zeitraffer: 2016 begann mit der hitzigen Debatte um den Massenmissbrauch und die Massenbelästigung von Frauen am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht. Kurz darauf demonstrierte der „Fall Lisa“ die Macht von Fake News: Eine junge Berliner Russlanddeutsche behauptete, von mehreren „südländischen“ Männern entführt und vergewaltigt worden zu sein, was sich zwar als falsch herausstellte, von russischen Medien aber als Tatsache verbreitet wurde. Die Anschläge von Ansbach und Würzburg im Sommer und in Berlin am 19. Dezember offenbarten erneut die verhärteten politischen und gesellschaftlichen Fronten in der Flüchtlingsfrage. Im Netz wurde gehasst – zur Begleitmusik einer hilflosen Debatte über Fake-News-Verbote und Facebook-Sanktionen. Den Präsidentschaftswahlkampf in den USA versuchte Russland mit Informationen zu manipulieren, die bei einem Hackerangriff erbeutet worden waren. Mit Donald Trump wurde dann ein Meister der manipulativen Kommunikation zum künftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Das Wort „postfaktisch“ wurde zum Wort des Jahres. Wir ertasteten die gläsernen Wände der Echokammern. Wir erzählten uns gegenseitig von unseren Albträumen einer totalen postmodernen Zersplitterung der Welt, Albträume, deren Schatten uns auch am Tag manchmal verfolgten.

2017, unken jetzt viele, soll nicht besser werden. Wir fürchten uns regelrecht vor dem Bundestagswahlkampf, der kommen wird. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch haben wir dann über die Weihnachtsfeiertage unsere selbstgewählten sozialen Monokulturen verlassen und uns mit dem Anderen an einen Tisch gesetzt, den AfD-Wähler-Vätern und Sarrazin-Zitierer-Onkels. Waren wir ohnehin schon erschöpft, sind wir es jetzt erst recht: Wir verstehen die Worte. Doch die Verständigung gelingt nicht. Der Diskurs ist kaputt – oft auch im Privaten. Er mündet in Gebrüll – oder in Schweigen. Aber warum eigentlich? Und wie können wir ihn reparieren?

Wenn Individualisierung in Entgesellschaftung umschlägt

Die Krise des Diskurses beginnt nicht mit dem Facebook-Algorithmus und nicht mit den geschäftstüchtigen Jungprogrammierern auf dem Balkan, die falsche Nachrichten verbreiten. Sie beginnt auch nicht mit den populistischen Störsendern. Sie beginnt in dem Moment, in dem Individualisierung in Entgesellschaftung umschlägt; dem Moment, in dem wir anfangen, uns und unsere Perspektive als ausreichend zu empfinden, um die Welt in ihrer Gänze zu erfassen. Die Krise hat begonnen, als wir anfingen, uns selbst genug zu sein.

Jürgen Habermas träumte einst den Traum vom „herrschaftsfreien Diskurs“. Eine wichtige Bedingung für den idealen Diskurs sah er in der Gleichheit aller Teilnehmer. Diese Bedingung ist heute erfüllt. Es gibt praktisch keinen Unterschied mehr zwischen Publikum und Podium, politischen und wissenschaftlichen Teilnehmern und den Bürgern. Das Privileg des Wissens wurde geschreddert, zumindest scheinbar. Jeder hat Zugang zu Informationen. Und aus Informationen werden Argumente.

Doch die informationelle Souveränität und die Emanzipation der Gesprächsteilnehmer hat nicht zur Verbesserung des Diskurses geführt – im Gegenteil. Das neue Selbstbewusstsein der Teilnehmer ist so groß, dass sie den Diskurs gleich wieder verlassen haben.

Eine unbelegte Facebook-Geschichte? Neurechte Propaganda? Fake News?

Es ist der 27. Dezember, ein Gasthof in Rheinland-Pfalz. An einem Tisch unterhalten sich drei Männer um die sechzig in Wandermontur. Das Bier ist frisch gezapft und unten im Tal glitzert in der Wintersonne die Nahe. Das Gespräch dreht sich um die deutsche Migrationspolitik. Einer der Männer beklagt sich über bettelnde Roma und über die vielen Syrer in der nahegelegenen Kreisstadt.

Einer seiner Begleiter erzählt daraufhin von einem Jahresrückblick, den er gerade im ZDF gesehen hat, von den zerbombten Häusern von Aleppo. Ganz arm dran, die Menschen. Er könne verstehen, dass sie fliehen. Arm dran, gibt der erste verächtlich zurück. Er habe gelesen, nur so als Beispiel, dass der Vater des im September 2015 tot am Strand von Bodrum angespülten Flüchtlingskindes Alan Kurdi selbst ein Schlepper gewesen sei. Das ZDF und die anderen großen Medien hätten das verschwiegen. „Wo hast du das denn gelesen?“, fragt der erste ungläubig, „Auf Facebook?“ „Quatsch, ich hab’ gar kein Facebook!“, erwidert sein Wandergefährte. Beide schauen zum Dritten am Tisch, aber der schweigt in sein Bier.

Mit dem Zweifel an der Lauterkeit der Quellen des jeweils anderen stirbt das Gespräch. Der eine hat das Vertrauen in die etablierten Medien verloren. Der andere unterstellt, die Geschichte hinter dem ikonischen Bild von 2015 könne nur eine dieser unbelegte Facebook-Geschichte sein, neurechte Propaganda, Fake News.

War Alan Kurdis Vater ein Schlepper? Eine Überlebende des Bootsunglücks, eine Irakerin, hat ihn in einem Interview mit einem australischen Fernsehsender kurz nach dem Unglück so bezeichnet. Sie sagte, er habe das Boot gesteuert. Alan Kurdis Vater selbst widersprach. Er habe das Boot erst gesteuert, nachdem ein türkischer Schlepper das Boot verlassen gehabt habe. Zur Einordnung der Information berichteten einige Medien, es sei Teil des Geschäftsmodells der eigentlichen Schlepper, einen der Flüchtlinge einen geringeren Preis zahlen zu lassen und ihm dafür das Steuer des Boots zu übergeben – um selbst einer Verhaftung am Zielort zu entgehen. Juristisch macht das diese Flüchtlinge in manchen Ländern zu Schleppern. Alan Kurdis Vater gab an, so viel gezahlt zu haben wie alle anderen.

Die Illusion der Selbstgenügsamkeit

Die Antwort ist also alles andere als einfach – die Faktenlage typisch für eine Geschichte, die sich leicht im Sinne einer kohärenten Weltanschauung zurechtbiegen lässt. Auf rechtsgerichteten Blogs wurde sie anders aufgeschrieben als in den etablierten Medien – sie konnte so beide Weltsichten bedienen: Die, die Hilfsbedürftigkeit der Flüchtlinge hervorhebt und die, die sie als Täter sehen will. Letztlich bleibt die Weltsicht beider Wandergefährten fragmentarisch. Als Über- Souveräne des eigenen Informationsimperiums werfen sie sich gegenseitig die ideologische Verwendung von Informationen vor.

Das Gespräch krankt tatsächlich auch daran, dass die eigentliche Frage, die einer Antwort bedarf, unausgesprochen bleibt: War es richtig, Flüchtlinge aufzunehmen und so viele? Und wie viele Menschen soll Deutschland in Zukunft aufnehmen? Geführt werden im Gasthaus, aber auch auf der politischen Bühne, meist mehr oder minder anekdotische Stellvertreterdebatten. Hätte man Anis Amri früher einsperren können? Begehen muslimische Männer häufiger Sexualdelikte als ur-deutsche Männer? Um wie viel Prozent ist das Terrorrisiko in Deutschland durch den Zuzug von Migranten und Flüchtlingen im Jahr 2015 gestiegen?

Einzelne Anschläge, Verbrechen und Vergehen – und seien sie noch so schwerwiegend – gegen die Verpflichtung zu Flüchtlingsaufnahme und gegen das Asylrecht als Ganzes zu halten, ist unproduktiv. Es braucht ein größeres, offenes Abwägen, ein Zusammentragen aller normativen Argumente und realer Folgen. Doch auch dem steht die Illusion der Selbstgenügsamkeit im Weg. Für den Einzelnen haben einzelne Tatsachen ein subjektives Gewicht, das nicht dem Gewicht der Tatsache für die Gemeinschaft insgesamt entsprechen muss.

Als informationelle Einzelgänger sind wir blind

Im subjektiven Erleben und der subjektiven Informationswelt des Einzelnen kann die Angst vor einem Anschlag übergroß sein, können Informationen über die Gefahren, die durch einzelne Flüchtlinge ausgehen, überwiegen. Wenn wir den Austausch mit Menschen, die andere Perspektiven haben, verweigern, dann kann keine gesellschaftliche Verständigung entstehen.

Um den Diskurs zu retten, brauchen wir also kein Gesetz gegen Fake News, sondern die Einsicht, dass wir uns allein eben nicht genug sind. Wir müssen unsere informationelle Selbstgenügsamkeit hinterfragen, uns anderen Perspektiven zu stellen, auch wenn sie unangenehm sind. Wir müssen raus aus den homogenen Komfortzonen und im Gespräch mit den Anderen gezielt nach Gemeinsamkeiten, nach den Überlappungen in der Weltwahrnehmung suchen – und von dort den Diskurs neu beginnen.

Es braucht ein neues Bewusstsein für die Bedeutung der Gemeinschaft zum Verstehen der Welt. Als informationelle Einzelgänger sind wir blind. Wir brauchen die Perspektiven der anderen, um uns zu verständigen – und um die Welt zu verstehen.

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