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Wie viele sollen es sein? Der Bundestag hat aktuell 709 Abgeordnete, auch wenn wegen Corona derzeit das Plenum dünn besetzt ist.

© Bernd Von Jutrczenka/dpa

Debatte um Wahlrechtsreform: CDU und CSU haben es plötzlich ganz eilig

Die Union will nun doch Wahlkreise streichen. Das träfe alle Bundesländer - auch Berlin ginge wohl ein Wahlkreis verloren. Und der Vorschlag hat weitere Folgen.

Marco Wanderwitz ist Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, als Ostbeauftragter der Bundesregierung gehört er zu den Gesichtern der Koalition in der zweiten Reihe. Dem nächsten Bundestag will er wieder angehören, am Wochenende hat ihn seine Basis als Direktkandidaten der CDU im Wahlkreis Chemnitzer Umland-Erzgebirgskreis II aufgestellt. Er ist einer der ersten Politiker, die zur Bundestagswahl 2021 als Kandidat schon feststehen.

Allerdings könnte ihm der Wahlkreis abhandenkommen. Nämlich dann, wenn umgesetzt wird, worauf sich die Unionsfraktion im Bundestag am Dienstagabend nach mehrstündiger Debatte verständigt hat: die Abschaffung von 19 Wahlkreisen nämlich, um so die weitere Aufblähung des Parlaments zu verhindern, das derzeit 709 Abgeordnete hat. Es sollen künftig nur noch 280 Wahlkreise sein. Und das Chemnitzer Umland könnte nicht mehr dazugehören.

Das Gesetz, mit dem die bisher eingerichteten 299 Wahlkreise zur Wahl 2021 neu zugeschnitten wurden, meist nur mit kleineren Korrekturen, ist erst am 29. Juni im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden. Nun wäre es Makulatur, wenn sich die Koalition zügig auf eine Wahlrechtsreform verständigen würde. Das Abschaffen von 19 Wahlkreisen wäre eine größere Aktion, die weitaus mehr Wahlkreise betreffen würde durch Aufteilungen und komplette Neuzuschnitte, um die gesetzlichen Bedingungen vor allem hinsichtlich der Wählerzahl erfüllen zu können. In der Union gibt es eine Tendenz, den Beschluss von Dienstagabend schon zu Wahl 2021 umzusetzen und nicht erst 2025. Und ihn am besten auch noch in dieser Woche mit der SPD umzusetzen.

In Berlin ohne Charlottenburg?

Dass der erst 2009 eingerichtete Wahlkreis 163, der einen längeren Streifen westlich von Chemnitz bildet und in dem Wanderwitz dreimal als Direktkandidat erfolgreich war, zu den Streichkandidaten zählt, lässt sich leicht erklären. Denn Wahlkreise, die in einem Wahlgebiet – in dem Fall der Freistaat Sachsen – innen liegen und von mehreren anderen Wahlkreisen umgeben sind, sind die naheliegenden Opfer einer solchen Reform, weil sie leicht aufgeteilt werden können. Und bei 19 Streichungen dürfte Sachsen mit einem Wahlkreis dabei sein.

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Auch Berlin könnte so einen Wahlkreis verlieren, möglicherweise den Charlottenburger, wo der CDU-Politiker Klaus-Dieter Gröhler das Direktmandat hält. Käme es zu der 280er-Lösung, dann dürften in den größeren Ländern zwei oder drei Wahlkreise gestrichen werden, in Nordrhein-Westfalen möglicherweise sogar vier (am ehesten wohl im Ruhrgebiet). Kleinere Länder könnten dagegen ohne Streichung durchkommen.

Die Verständigung in der Unionsfraktion, die am Dienstagabend zum ersten Mal überhaupt über das Wahlrecht debattiert hat, hat neben der Verringerung der Wahlkreiszahl noch einen weiteren Punkt: Es sollen bis zu sieben Überhangmandate ohne Ausgleich bleiben. Das wäre eine Abkehr vom bisherigen System, das seit 2013 gilt und auch mit den Stimmen von CDU und CSU beschlossen worden war. Denn das geltende Wahlrecht sieht Ausgleichsmandate vor, wenn Überhänge entstehen, um so stets den Parteienproporz gemäß dem Zweitstimmenanteil zu wahren.

Einschnitte beim Parteienproporz?

Würden nicht mehr alle Überhänge ausgeglichen (sie ergeben sich, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil Mandate zustehen), dann wäre der Proporz verzerrt. Unter Umständen könnte das sogar für die Regierungsbildung entscheidend sein. Die SPD hat das bisher abgelehnt, auch alle Oppositionsfraktionen – AfD, FDP, Linke, Grüne – sind dagegen.

Was die Union jetzt möchte, ist nicht neu: Es entspricht dem Vorschlag, den Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im vorigen Jahr gemacht hat, damit aber auf allen Seiten Widerspruch erntete. Schäuble schlug Anfang April 2019 vor, die Zahl der Wahlkreise auf 270 zu verringern und bis zu 15 Überhänge nicht auszugleichen. Diese Zahl ergibt sich, weil das Bundesverfassungsgericht – allerdings in einer Entscheidung, die das seit 2013 nicht mehr geltende Wahlrecht betraf – einmal feststellte, dass bis zu dieser Größenordnung Überhänge ohne Ausgleich akzeptabel wären. Insbesondere von der CSU wurde jedoch jede Verringerung der Wahlkreiszahl abgelehnt - bis Dienstagabend. Schäuble hatte unlängst im Tagesspiegel gefordert, zumindest zu einer Notlösung für 2021 zu kommen.

An Schäuble-Modell orientiert

Nach Berechnungen des Bundesinnenministeriums damals hätte das Schäuble-Modell bei der Bundestagswahl 2017 zu 641 Sitzen geführt. Mit 280 Wahlkreisen und sieben Überhängen ohne Ausgleich würden es deutlich mehr sein – man würde wohl etwa bei 690 Mandaten landen, die von der SPD und der CSU als Deckelungsgrenze ins Gespräch gebracht worden sind. Je nach Ausgang der Wahl – Umfragen ergeben derzeit ohne Reform eine Größe von  etwa 750 Sitzen – könnte trotz der beiden von der Union nun vorgeschlagenen, eher maßvollen Schritte durchaus ein Bundestag herauskommen, der mehr als die aktuell 709 Abgeordneten hätte.

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Die Sozialdemokraten haben am Mittwoch eher verhalten reagiert. Man müsse sich das erst einmal erklären lassen, hieß es. Doch aus der Union wurde schnell Druck gemacht, zu einer zügigen Lösung zu kommen. „Wir brauchen eine Einigung noch diese Woche“, sagte der Unions-Fraktionsvize Thorsten Frei der Deutschen Presse-Agentur.

Springt SPD über ihren Schatten?

Dann aber müsste die SPD über ihren Schatten springen – und eine Proporzverzerrung akzeptieren. Die Union wird dagegenhalten, sie sei ja gesprungen, indem sie weniger Wahlkreise akzeptiert habe. „In dieser Woche halte ich eine Entscheidung für ausgeschlossen“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Carsten Schneider. Er sei aber zuversichtlich, dass noch rechtzeitig für die Wahl 2021 eine Verständigung gelinge.

Die Opposition wird bei ihrer Linie bleiben, dass jede Reform den Parteienproporz erhalten müsse. Der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle, kommentierte das Ergebnis der abendlichen Unions-Fraktionssitzung so: „Es ist zu spät, es ist zu wenig und es ist zu unambitioniert.“ Die von FDP, Linken und Grünen geforderte Abstimmung über ihren Gesetzentwurf am Freitag im Bundestagsplenum verhinderte die Koalition am Mittwoch im Innenausschuss. Die Begründung: Es gebe noch Beratungsbedarf.

Modell der Opposition steht nicht zur Abstimmung

Die drei Oppositionsparteien hatten vorgeschlagen, die Zahl der Wahlkreise auf 250 zu verringern, dafür aber die Normalgröße des Parlaments von 598 auf 630 Sitze anzuheben. Damit wäre eine Deckelung bei unter 700 Mandaten relativ wahrscheinlich. Doch ist eine Streichung von einem Sechstel der Wahlkreise ein Jahr vor der Wahl wohl nicht mehr zu machen, denn es ist ja schon unklar, ob die kleinere Variante der Wahlkreisreform, welche die Union nun mitmachen würde, ohne größere Reibereien über die Bühne gehen würde. Rechtlich ist sie wohl möglich – selbst wenn die ersten Kandidatenaufstellungen schon vorliegen wie im Fall Wanderwitz. Sie müssten eben im Herbst, nach der Wahlkreisreform, wiederholt werden. Wenn der Wahlkreis noch vorhanden

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