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 Sigmar Gabriel (SPD) spricht von einer "Erfolgsgeschichte" der bundesdeutschen Polizei.

© Michael Kappe/dpa

Debatte um Polizei und Ausschreitungen in Stuttgart: Innere Sicherheit ist eine Kernkompetenz der SPD

Die Geschichte der bundesdeutschen Polizei ist ein Erfolg. Aber innere Sicherheit braucht mehr als eine Verschärfung repressiver Gesetze. Ein Gastbeitrag von Sigmar Gabriel.

Sigmar Gabriel war SPD-Vorsitzender und ist Vorsitzender der Atlantik-Brücke und Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bank. Er ist Autor der Holtzbrinck-Gruppe, zu der auch der Tagesspiegel gehört.

Wenn wir ehrlich sind, dann bedurfte es offenbar der Bilder der nächtlichen Randalierer in Stuttgart, um die Debatte über die deutsche Polizei wieder zur Vernunft zu bringen.

Zuvor hatten die gewalttätigen Übergriffe und die Tötung von George Floyd in den USA zu einer irrlichternden Diskussion über Rassismus in der deutschen Polizei geführt, in der ausgerechnet die SPD-Vorsitzende den Eindruck erweckte, als stünden Deutschlands Polizisten unter Generalverdacht.

Und um die geistige Orientierungslosigkeit komplett zu machen, lässt eine Berliner Kolumnistin ihrem kleinbürgerlichen Linksradikalismus freie Lauf und träumt davon, die Polizei auf einer Abfallhalde zu entsorgen.

Wie eitel und selbstgefällig muss man sein, wie gut und sicher muss man leben und wie wenig muss man über den Wert einer der Demokratie verpflichteten Polizei wissen, um soviel Unsinn in die Welt zu setzen?

Wir können von einer Erfolgsgeschichte der bundesdeutschen Polizei sprechen

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich gibt es auch in der deutschen Polizei Vorfälle von Rassismus, weil die Polizei ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft ist. Damit dürfen wir uns nicht abfinden. Aber gerade weil das weder die deutschen Innenbehörden noch die Gewerkschaft der Polizei tun, kann man getrost von einer Erfolgsgeschichte mit Blick auf die bundesdeutsche Polizei sprechen.

Anders als in den USA braucht man hierzulande nicht nur wenige Wochen Ausbildung, um Polizistin oder Polizist zu werden, sondern mindestens drei Jahre. Und anders als in den 1950er und 1960er Jahren, wo nicht selten Ausbilder und Vorgesetzte noch aus der Nazi-Zeit stammten, wird die deutsche Polizei heute von einer liberalen und rechtsstaatlichen Führungskultur geprägt.

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Bei allen Problemen, die es auch innerhalb der Polizei gibt, ist es töricht, diese Erfolgsgeschichte der letzten 70 Jahre zu ignorieren. In den USA wird derzeit von Bürgerrechtlern eine Reform der Polizei gefordert, die in unserem Land Standard ist bei Ausbildung und Praxis.

 Sicherheit auch für Bürger in "sozialen Brennpunkten"

Wir leben in einer Zeit tiefer Verunsicherung, ausgelöst durch die Corona-Pandemie und ihre weltweiten wirtschaftlichen Folgen. Politisch wird es in den kommenden Jahren darum gehen, Sicherheit im Wandel zu ermöglichen. Dabei geht es nicht nur um soziale Sicherheit, sondern auch und vielleicht sogar ganz besonders um die innere Sicherheit.

Einbrüche und abstoßende Fälle von Gewalt im Alltag haben das Gefühl wachsen lassen, im ganz normalen Lebensumfeld nicht mehr sicher zu sein. Der öffentliche Raum – Plätze, Parks, Spielplätze, Schwimmbäder – und die öffentliche Infrastruktur sind in zu vielen Stadtteilen und ländlichen Gegenden verwahrlost, und zwar sowohl baulich wie auch was die Regeln des Miteinanders angeht.

Wer aber das, was für ihn zu Hause oder Heimat ist, als „sozialen Brennpunkt“, „rechtsfreien Raum“ oder „abgehängte Region“ klassifiziert sieht, der kommt leicht auf den Gedanken, dass Sicherheit wieder zur Klassenfrage geworden ist.

 Das subjektive Unsicherheitsgefühl nicht mit Statistiken wegreden

In der politischen Diskussion bleibt die Sicherheitsfrage weitgehend ein Thema für die Experten der Innenpolitik. Eines ihrer Argumente lautet, dass die Kriminalstatistik keine Grundlage für das steigende Gefühl persönlicher Unsicherheit ergebe.

Auch in der Diskussion über die Ausweitung der Videoüberwachung in öffentlichen Räumen heißt es immer wieder, dass Videoüberwachungen keine „generalpräventive“ – also vorbeugende – Wirkung zur Verhinderung von Straftaten hätten. Mal abgesehen davon, dass die Ausweitung der Videoüberwachung mindestens die Strafverfolgung deutlich erleichtern und damit für die zukünftigen Straftaten der Täter eine „spezialpräventive Wirkung“ hätte, weil sie im Zweifel im Gefängnis sitzen, statt Verbrechen zu verüben, dürfte diese statistische Argumentation die verunsicherten Teile der Bevölkerung nicht überzeugen.

Im Zweifel denken nicht wenige, dass auch die Gegner der Videoüberwachung letztlich nur zu „denen da oben“ gehören, die keine Ahnung davon haben, wie sich Frauen auf öffentlichen Plätzen in Großstädten oder Rentner in der U-Bahn fühlen, weil sie in der Regel in anderen Stadtteilen wohnen oder nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind.

Null-Toleranz für Angriffe auf Polizei und Rassismus

Eine effektive Strafverfolgung, zügige Verfahren und eine zeitnahe Verurteilung der Täter nach der Tat sind vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene dringend nötig. Denn nicht nur in Stuttgart bricht sich bei passender Gelegenheit offenbar die pure Lust an der Gewalt Bahn, die vor allem eines zeigt: Das Gewaltmonopol des Staates existiert in den Köpfen der Randalierer nicht.

 Polizeieinheiten sammeln sich in der Stuttgarter Innenstadt, um gegen Randalierer vorzugehen.
Polizeieinheiten sammeln sich in der Stuttgarter Innenstadt, um gegen Randalierer vorzugehen.

© Simon Adomat/dpa

Wenn Bürgersöhnchen meinen, zu Silvester oder in der Nacht zum 1. Mai in Berlin Prügeleien mit der Polizei zu ihrem Freizeitvergnügen veranstalten zu dürfen, wenn monatelang Gewaltakte geprobt werden für ein Treffen der G 20-Staats- und Regierungschefs oder wenn Gaffer Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr oder Rettungsdiensten nicht nur behindern, sondern sie anpöbeln und angreifen, dann kann uns das genauso wenig egal sein wie alltäglicher Rassismus.

Null-Toleranz muss für beides gelten. Wo dagegen verstoßen wird, muss die Strafe auf dem Fuße folgen, sonst gibt sich der Rechtsstaat schnell der Lächerlichkeit preis.

Die Frage, wie Bürgerinnen und Bürger sicher leben und im Vertrauen auf die Durchsetzung des Rechts ihren Alltag meistern können, ist längst eine der zentralen politischen Herausforderung unserer Zeit geworden. Umfassende Sicherheit, und zwar für alle Schichten der Gesellschaft – wirtschaftliche, soziale und öffentliche Sicherheit –, hat sich zu einem zentralen Wert demokratischer Gesellschaften entwickelt.

Anders gesagt: Wenn die Demokratie gleiches Bürgerrecht auf ein sicheres Leben nicht garantiert, dann ist der innere Frieden in Gefahr, und demokratiefeindliche autoritäre Bewegungen gehen auf Stimmenfang.

Die SPD machte Sicherheitspolitik einst zu Gesellschaftspolitik

Es ist interessant, dass sich gerade sozialdemokratische Politik häufig nicht recht traut, die innere Sicherheit zu ihrem Thema zu machen. Dabei gibt es diesen Begriff von „innerer Sicherheit“ im umfassenden Sinne erst seit der sozialliberalen Koalition von 1969.

Die Regierungschefs vor Willy Brandt betrachteten die öffentliche Ordnung – ein Erbe noch des deutschen Obrigkeitsstaates – als eine isolierte Aufgabe von Polizei und Justiz. Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel erklärte sie 1976 hingegen zum Merkmal sozialdemokratischer Sicherheitspolitik und dass sie „im Kern Gesellschaftspolitik“ sei – und zwar „als Teil der am Bürger zu gewährleistenden Freiheitssphäre und ebenso als ein Teil seiner konkreten Lebensqualität“.

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CDU und CSU reagieren auf Ereignisse wie in Stuttgart in der Regel ausschließlich mit Forderungen nach Verschärfung repressiver Gesetze. Die Sozialdemokratie hätte allen Grund, darauf mit einem eigenen und umfassenderen Ansatz zu antworten, denn ihr Kernanliegen einer sozial sicheren und gerechten Gesellschaft ist ohne die Sicherheit der besonders verwundbaren Menschen vor Kriminalität und Gewalt nicht zu erreichen.

Es gilt: Keine Gerechtigkeit ohne Sicherheit. Aber eben auch keine Sicherheit ohne Gerechtigkeit. Denn vor allem die ganz normale Bürgerschaft unseres Landes ist auf einen nicht nur bei der Strafverfolgung, sondern generell in der öffentlichen Sicherheit handlungsfähigen Staat angewiesen.

 Nur reiche Menschen können sich einen schwachen Staat leisten

In den Sozialversicherungen, in der Bildungspolitik oder im Wohnungsbau gilt es ebenso wie bei Kriminalität und Gewalt: Nur sehr reiche Menschen können sich einen schwachen Staat leisten. Sie ziehen sich in „gated communities“ zurück, wie sie überall dort existieren, wo die Privatisierung der öffentlichen Angelegenheiten weit fortgeschritten ist und die Ideologie der Konkurrenzgesellschaft triumphiert hat.

Private Sicherheitsdienste für das Wohnviertel gehören zu demselben Trend wie die privilegierten Schulen für Kinder aus reichen Familien oder die privatisierte medizinische Versorgung. Doch ohne Sicherheit für Leib und Leben aller Bürger und auch für das hart erarbeitete Eigentum ist alles andere nichts. Diese Sicherheit ist eine existentielle Voraussetzung der Freiheit.

 Mehr Präsenz der Polizei im Alltag

Was tun? Zuerst brauchen wir schlicht mehr Personal und eine weit bessere technische Ausstattung für die Polizeien von Bund und Ländern. Und auch mehr öffentliche Präsenz der Polizei. Auch im Alltag und auch wieder mit Kontaktbereichsbeamten in den Wohnquartieren. Dicke Gesetzespakete, aber dünne Personaldecken – das funktioniert nicht.

Der Kontaktbereichsbeamte, hier ein Archivbild aus Berlin-Kreuzberg, ist im Alltag ein Ansprechpartner für die Bevölkerung.
Der Kontaktbereichsbeamte, hier ein Archivbild aus Berlin-Kreuzberg, ist im Alltag ein Ansprechpartner für die Bevölkerung.

© Kitty Kleist-Heinrich

Wir sollten die Videoüberwachung öffentlicher Plätze erleichtern, denn es ist für niemanden nachvollziehbar, dass dies im privatwirtschaftlichen Bereich in Kaufhäusern und Tankstellen jederzeit möglich ist, Polizeibehörden aber erhebliche Schwierigkeiten haben, entsprechende Maßnahmen im öffentlichen Raum umzusetzen.

Videobilder haben in jüngster Zeit entscheidend geholfen, sehr rasch schwere Gewaltdelikte aufzuklären, Täter zu identifizieren und zu verhaften. Und natürlich gehört auch dazu, dass wir Daten auch so speichern können, dass sie in der Praxis polizeilicher Arbeit zur Strafverfolgung genutzt werden können.

Der permanent vorgetragenen Sorge, jede erweiterte Eingriffsbefugnis des Staates führe immer gleich zu Missbrauch und gefährde die Liberalität unseres Rechtsstaates, kann man getrost empirisch gesicherte Erfahrungen entgegen halten: Notstandsgesetzgebung, Anti-Terrorgesetzgebung und die Möglichkeit zum Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel hat die Bundesrepublik Deutschland in den letzten mehr als 70 Jahren ja gerade nicht autoritärer gemacht, sondern im Gegenteil: Unser Land wurde von Jahr zu Jahr liberaler. Gewaltenteilung und vor allem eine unabhängige Justiz haben dafür gesorgt.

Mehr Geld für Kultur, Bildung und intakte Städte gegen die Verrohung

Es wird aber auch darum gehen müssen, die innere Stabilität unserer Gesellschaft zu stärken, damit sie die wachsende Verrohung und Gewaltbereitschaft nicht aus dem Gleichgewicht bringt. Intakte und lebendige Städte und Gemeinden schaffen, Beschäftigung sichern, soziale Sicherheit gewährleisten, in Bildung investieren, Kultur fördern und zivilgesellschaftliche Organisationen und Einrichtungen, Präventionsarbeit leisten.

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All das verbessert die „Sicherheitsarchitektur“ unseres Landes in einem umfassenden und nicht nur in einem technischen Sinne. Jede Form der Spaltung, soziale, ethnische oder religiöse, geht zu Lasten der Sicherheit.

Wenn wir daraus die politischen Konsequenzen ziehen, müssen wir dazu bereit sein, erhebliche finanzielle Mittel mobilisieren.

Unsere Erfahrung mit De-Radikalisierung nutzen

Darüber hinaus brauchen wir eine große demokratische Kulturoffensive gegen die Radikalisierung und für unsere Gesellschaftsordnung. Dafür gibt es viele Anleihen, die wir in unserer eigenen bundesrepublikanischen Vergangenheit machen können.

Dem wachsenden Drogenkonsum haben wir in allen Schulklassen unseres Landes Unterrichtseinheiten gewidmet. Gegen die Ausbreitung von Sekten wie Scientology haben wir Aussteigerinitiativen gefördert. Und als wir die kommunistische Propaganda entlarven wollten, haben wir die im damaligen Sowjetreich geächteten Literaten und Intellektuellen zu uns eingeladen und ihnen Öffentlichkeit verschafft.

Wenn die Demokraten in der kulturellen und ideologischen Auseinandersetzung normative Klarheit schaffen, werden sich weniger Menschen an die sogenannten „besorgten Bürger“ von Pegida oder AfD wenden.

Sozialdemokraten haben Sicherheit nie allein durch Repression, sondern immer auch durch innere Reformen und kulturelle Auseinandersetzung zu stärken versucht. Darauf sollten wir uns besinnen.

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