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Es wird eine Mammutaufgabe, in der gesamten SPD die notwendige Zeitenwende in der Außenpolitik durchzusetzen.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Debatte um eine neue SPD-Ostpolitik: Es ist gerade nicht die Zeit, über Entspannung mit Russland nachzudenken

Es darf absehbar keine Kooperation mit totalitärem Gewaltherrscher Putin geben. Erwiderung auf den Gastbeitrag der Politikwissenschafter Merkel und Schroeder

Dr. Patrick Horst, Akademischer Oberrat, Nordamerikastudienprogramm, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Die Debatte über einen neuen und zukünftigen Umgang mit Russland ist in vollem Gange. Unter dem Titel „Aufrüstung ist noch kein Konzept“ haben die Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel und Wolfgang Schroeder, die beide am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) arbeiten und Mitglieder der Grundwertekommission der SPD sind, ihre „Sicherheitspolitik für eine neue Welt“ am Sonntag im Tagesspiegel vorgestellt.

Dass Russland nicht aufgegeben werden darf, wie die Autoren argumentieren, ist eine Binsenwahrheit, die aber angesichts der grausamen Bilder aus der Ukraine völlig deplatziert ist. Sie passt auch nicht zu den Schreckensnachrichten aus Russland, wo gerade in einem erneuten politischen Schauprozess der Regimegegner Alex Nawalny zu neun weiteren Jahren Gulag verurteilt wurde, alle Oppositionsbestrebungen im Innern mit massiver Polizeigewalt unterdrückt und die Medien gleichschaltet wurden.

Es fragt sich, wen die Autoren mit „Russland“ meinen: die im Land um ihr Leben, ihre Freiheit und ihre Würde kämpfenden Menschen oder die menschenverachtende Machtclique um den Völkermörder Putin? Russland ist schon lange keine „normale“ Autokratie mehr und war es unter Putin auch nie, wie sein blutiger Krieg in Tschetschenien zu Beginn seiner Machtübernahme zeigte. Das Land ist zu einem totalitären Schreckensregime mutiert, das seine Bevölkerung und die angrenzenden Nachbarstaaten mit Terror, Gewalt und einer Orwell‘schen Propaganda überzieht.

Gilt Verrechtlichung der Beziehungen nicht für Großmächte?

Die zentrale Frage ist jetzt die Debatte um die von Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete „Zeitenwende“ in der deutschen Außenpolitik. Aus dieser Zeitenwende nun, so der Tenor der beiden verdienten sozialdemokratischen Politologen Schroeder und Merkel , ein „Weiter so“ zu machen, ist schon eine bemerkenswerte Gedankenakrobatik.

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Sie ist nur deshalb möglich, weil sich die Autoren über die theoretischen Prämissen ihrer Argumentation nicht im Klaren sind: Wollen sie nun auf einer realistischen Basis argumentieren oder sehen sie die internationalen Beziehungen in guter liberaler Tradition durch Kooperation, Verrechtlichung und ökonomische Verflechtung bestimmt? Offensichtlich betrachten sie in ihrem „neuen Realismus“ die Welt als zweigeteilt: Verrechtlichung gelte für Länder wie „Dänemark, Österreich und Deutschland“, nicht aber für die atavistischen Großmächte Russland, China und die USA.

Hier der Debattenauftakt im Tagesspiegel um die neue SPD-Ostpolitik:

Merkels und Schroeders Gleichsetzung von „Putins kriegsverbrecherischer Aggression in der Ukraine“ mit Bushs „ebenfalls herbeigelogenem Angriffskrieg“ gegen den Irak im Jahre 2003 zeugt von einer bemerkenswerten Chuzpe. Diese Sichtweise ist in der SPD weit verbreitet, seit Gerhard Schröder sich an der Seite Frankreichs, Russlands, Chinas und der Arabischen Liga gegen den Irakkrieg gestellt hat. Noch heute wird das Argument mit Verve von Oskar Lafontaine und Sarah Wagenknecht vorgetragen.

US-Intervention waren vielleicht falsch, ließen sich aber humanitär begründen

Ja, Bush hat gelogen bei seinen öffentlichen Begründungen für den Krieg. Ganz offensichtlich war dies bei den behaupteten Massenvernichtungswaffen des Irak, und vielleicht waren auch seine Motive mit Blick auf die behauptete Demokratieförderung im arabischen Raum nicht ganz so aufrichtig wie dargestellt. Man kann an Demokratieförderung und vor allem Regimewechsel als außenpolitischer Strategie zweifeln – das Scheitern der USA im Irak, in Libyen und in Afghanistan haben dies aller Welt verdeutlicht. Kein Zweifel kann jedoch daran bestehen, dass die Kriege und Interventionen der USA verbrecherischen Regimen galten und ihr Sturz sich humanitär begründen ließ.

Der US-Einmarsch in Irak führte zum Sturz des Diktators Saddam Hussein - hier der Sturz einer Saddam-Statue in Bagdad.
Der US-Einmarsch in Irak führte zum Sturz des Diktators Saddam Hussein - hier der Sturz einer Saddam-Statue in Bagdad.

© Patrick Baz/AFP

So umstritten eine Pflicht zur humanitären Intervention („responsibility to protect“) im Völkerrecht bleibt: Eine Nichtintervention bei schweren Menschenrechtsverletzungen ist oft eine noch unbefriedigendere Lösung. Dies ist seit langem in Syrien, im Jemen und jetzt wieder in der Ukraine zu beobachten. Putin hat im Gegensatz zu Bush ein Land überfallen, das sich seit zwei Jahrzehnten in Richtung Demokratie und Freiheit zu bewegen versucht, darin aber immer wieder von Russland gehindert wird – bis hin zu diesem verbrecherischen Angriffskrieg. Auch in Syrien unterstützt Putin einen skrupellosen Diktator in seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Opposition im Innern, mit grauenhaften Folgen für die Zivilbevölkerung. Dies hat mit realistischer, interessengeleiteter Außenpolitik wenig zu tun.

Es ist wie bei Bush in erster Linie eine wertegeleitete Außenpolitik, die aus realistischer Sicht in beiden Fällen sehr unvernünftig ist. John Mearsheimer und Stephen Walt, die beiden renommierten Neo-Realisten aus den USA, haben Bush für den Irakkrieg heftig kritisiert. Eine Eindämmung („Containment“) Saddams hätte die Ziele der USA effektiver erreicht, so ihr damaliges Argument. Unabhängig davon, wie diese Argumentation zu bewerten ist, macht es einen Unterschied von Tag und Nacht, ob wertegeleitete Außenpolitik sich an Freiheit, Demokratie und „Pax Americana“ wie bei Bush oder an Unterdrückung, Diktatur und großrussischer Ambition (Putin) orientiert.

Natürlich ist die Modernisierung der Bundeswehr umstritten

Merkels und Schroeders unverhohlene Abneigung gegen den wertegeleiteten „Neo-Heroismus im öffentlichen Diskurs“ und ihr Eintreten für eine „vom Ende her zu denkende Handlungsorientierung“ klingt zwar sehr wohlgefällig, geht aber im Kern an den politischen Notwendigkeiten des Moments vorbei. Jetzt ist gerade nicht die Zeit, um über Entspannung und „ein geordnetes Verhältnis zu Russland“ nachzudenken. Es ist auch nicht die Zeit, gegen „Aufrüstung“ zu polemisieren oder zu insinuieren, dass die Notwendigkeit der Modernisierung der Bundeswehr „kaum umstritten“ sei.

Sie ist gerade in der SPD, aber auch in Teilen der Koalition und selbst der Opposition sehr wohl umstritten, in der Linken wird sie sogar auf das Heftigste bekämpft. Anders als Pazifisten jedweder Couleur sich verständlicherweise wünschen, geht es jedoch nicht immer gleich darum, den Krieg zu stoppen und Friedensverhandlungen zu führen. Der Ukraine geht es vor allem darum, Putins Armee zu besiegen, aus dem Land zu vertreiben und dann militärische Sicherheitsgarantien gegen den Aggressor zu erhalten. Für den Westen bedeutet dies, dass er der Ukraine vor allem noch effektiver mit Waffen helfen muss. Auch die Möglichkeiten militärischer Unterstützung unterhalb der Schwelle eines Nato-Einsatzes sind noch lange nicht ausgeschöpft, sagen Sicherheitsexperten.

Es wird eine Herkulesaufgabe sein, das kritische Bewusstsein für die notwendige außenpolitische Zeitenwende in Deutschland zu schaffen. Das bezieht auch das Verhältnis zu den USA ein, das trotz US-Präsident Biden nach wie vor der Verbesserung bedarf. Die Gefahr besteht nicht darin, wie Merkel und Schroeder meinen, dass Deutschland „zum Spielball der großen Mächte“ wird, sondern dass es die demokratische Supermacht USA nicht von den diktatorischen Großmächten Russland und China unterscheidet.

Gerade weil Amerika nicht mehr „die unhinterfragte Schutzmacht Europas“ sein wird, müssen Deutschland und Europa alles tun, um die demokratischen Kräfte in den USA zu stärken. Ein geeintes, außen- und sicherheitspolitisch handlungsfähiges Europa muss fest an der Seite der USA stehen und den Diktaturen dieser Welt klare Grenzen auch dann setzen, wenn dies mit ökonomischen Einbußen einhergeht. Gegenüber Russland heißt dies vor allem: Es darf keine Kooperation und ökonomische Interdependenz mit einem totalitären Gewaltherrscher und Kriegsverbrecher wie Putin geben.

Es ist die Verantwortung der politischen und ökonomischen Eliten in Russland, dass dem russischen Diktator das Handwerk gelegt wird. Nur dann und nachdem Russland sich aus den besetzten Gebieten in der Ukraine (sowie in Georgien und Syrien) zurückgezogen hat, kann es wieder ökonomische, kulturelle und wissenschaftliche Kooperationen mit einem Russland geben, das sich an die grundlegenden Regeln des Völkerrechts hält.

Patrick Horst

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