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Ende einer Intervention: Kinder warten am Flughafen Kabul darauf, in Sicherheit geflogen zu werden.

© imago images/UPI Photo

Debatte über Außenpolitik: Von nackter Ignoranz kann keine Rede sein

Die deutsche Außenpolitik sei noch immer gefangen in den Denkmustern des Kolonialismus, kritisierte ein Tagesspiegel-Beitrag. Stimmt das? Ein Gegenkommentar.

Ein Kommentar von Hans Monath

Ist die deutsche Außenpolitik stark geprägt von kolonialen Denkmustern, die aus der Zeit des Kaiserreichs und des Imperialismus stammen? Trifft das Urteil zu, die deutsche Außenpolitik sei anders als unter Wilhelm II. zwar nicht mehr von Großmachtsfantasien getrieben, biete aber trotzdem nur „eine Mischung aus Selbstbetrug, strategischen Fehlern und nackter Ignoranz“?

Diese These hat mein Kollege Paul Starzmann in einem Tagesspiegel-Meinungsbeitrag aufgestellt – und versucht, sie am Beispiel der Verantwortung Deutschlands für Militärinterventionen und Stabilisierungsbemühungen in Afghanistan und Mali zu belegen.

Sollte die Behauptung stimmen, müsste diese Republik insgesamt heute in einem verheerenden Zustand sein, wäre international isoliert oder geächtet. Das ist sie aber nicht. Auch Länder, die selbst Kolonien waren, wie etwa Indien, schätzen Deutschland heute als Partner. 

Deutschland war in Mali und Afghanistan vor allem Bündnispartner

Im Umgang mit Afghanistan wurden Fehler gemacht, Fehler mit katastrophalen Folgen. Auch in Mali könnten die Bemühungen scheitern, an denen Deutschland beteiligt ist.

Aber ist in beiden Fällen Deutschland und eine angeblich ungebrochene Tradition kolonialistischen Denkens für die Fehlentwicklungen verantwortlich? Die Führungsnation beim Versuch, Afghanistan zu stabilisieren, waren die USA, im Falle Malis und anderer Sahel-Länder in Westafrika ist es Frankreich. Nur als deren Bündnispartner konnte Deutschland eigenen, begrenzten Einfluss entfalten.

Bundeswehrsoldaten mit Dolmetscher nahe Kundus: Wie viel Rücksicht nahm die deutsche Politik auf die andere Kultur Afghanistans?
Bundeswehrsoldaten mit Dolmetscher nahe Kundus: Wie viel Rücksicht nahm die deutsche Politik auf die andere Kultur Afghanistans?

© dpa

Wer nach dem Einfluss kolonialer Denkmuster auf den Umgang speziell mit diesen beiden Ländern fragt, müsste also nicht nur Deutschland, sondern den ganzen Westen in den Blick nehmen.

Wenn sich die deutsche Außenpolitik ständig selbst betrügt, strategische Fehler begeht und gegenüber anderen Ländern ignorant verhält, wie ist es dann zu erklären, dass deutsche Regierungen sich in jüngerer Zeit zwei spektakulären Interventionen des Westens im Mittleren Osten und in Nordafrika verweigert haben – und dafür schwere politische Konflikte in Kauf nahmen?

Mit dem Irakkrieg wollten die USA Demokratie exportieren

Die rot-grüne Regierung widerstand massivem Druck, um sich 2003 dem Irakkrieg von George W. Bush zu verweigern. Acht Jahre später weigerte sich eine schwarz-gelbe Regierung, sich an der Durchsetzung einer Flugverbotszone in Libyen und an Luftangriffen Frankreichs, der USA und Großbritanniens zu beteiligen, die 2011 zum Sturz des Diktators Gaddafi führten.

Mit dem Irakkrieg glaubte die USA die demokratische Ordnung mit militärischer Macht in eine Region exportieren zu können, die damit wenig Erfahrung hatte. Weder Gerhard Schröder noch Joschka Fischer erlagen dieser Versuchung. Vor der Libyen-Resolution der Vereinten Nationen war die Bundesregierung nicht ignorant, sondern warnte davor, ein Sturz des Regimes werde dazu führen, dass dessen riesiges Waffenarsenal in der ganzen Region vagabundieren und sie ins Chaos stürzen würde. Was dann auch geschah. 

Es gibt Parallelen zwischen den Bundeswehreinsätzen in Afghanistan und in Mali (hier im Bild).
Es gibt Parallelen zwischen den Bundeswehreinsätzen in Afghanistan und in Mali (hier im Bild).

© Michael Kappeler/dpa

Wenn das Erbe des deutsche Kolonialismus die deutsche Außenpolitik noch immer prägt – was hat der Wilhelminismus dann mit diesen beiden richtigen Entscheidungen zu tun? An der Wirklichkeit scheitert die Behauptung einer fortwirkenden Dominanz eines Denkens im 21. Jahrhunderts, wie es etwas das Handeln eines Lothar von Trotha  bestimmte, der als Befehlshaber im damaligen Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) mit seinem Vernichtungsbefahl den Völkermord an den Herero und Nama auslöste.

Die „Postcolonial Studies“ werfen Fragen auf und geben Hinweise, mit denen sich die Außenpolitik Deutschlands und anderer Länder verbessern lässt. Auch wichtige Elemente des Systems internationaler Beziehungen beruhen auf Voraussetzungen aus der Zeit des Kolonialismus. Seine Regeln verteidigen etwa von Kolonialherren willkürlich gezogene Grenzen. Das tun auch die Grundsätze der Vereinten Nationen (VN).

Zählt die Scharia zu den eigenen afghanischen Traditionen?

Auch an den Zielen der VN hat sich Deutschland orientiert, beim Versuch, Afghanistan aufzubauen – und etwa demokratische Wahlen unterstützt. Wer aus postkolonialer Sicht beklagt, dies missachte eigene afghanische Regeln oder Gewohnheiten, sollte die Frage beantworten: Was waren 2001, im Jahr der militärischen Intervention, die eigenen, von kolonialistischen Ansätzen bedrohten und schützenswerten Traditionen der Afghanen? 

Gehören dazu nicht nur eine bestimmte Form von Stammeskultur, sondern auch ein von einer speziellen islamischen Religiosität geprägtes Patriarchat und die Scharia inklusive ihrer grausamen Körperstrafen?

Wer den Gedanken weiterverfolgt, landet bei der Frage: Wenn es zum Konflikt kommt zwischen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Traditionen wie zum Beispiel in Afghanistan – wie wird dieser Konflikt dann aufgelöst? Ist schon der Gedanke eines Exports von Menschenrechten eine neue Form von Imperialismus (ob Militärinterventionen in anderen Ländern dafür das richtige Instrument sind, ist eine andere Frage)?

In Übereinstimmung mit VN-Vorgaben wurden in Afghanistan Wahlen abgehalten - aber war das Ergebnis auch fair?
In Übereinstimmung mit VN-Vorgaben wurden in Afghanistan Wahlen abgehalten - aber war das Ergebnis auch fair?

© BEHROUZ MEHRI/AFP

Auch im Fall Afghanistans war und ist die deutsche Exekutive nicht so ignorant, wie ihr das in dem Meinungsbeitrag unterstellt wird. Sie hatte und hat eine Vorstellung von der Vielfalt der dortigen Gesellschaft – was nicht heißt, dass sie immer die richtigen Antworten gegeben hätte.

Schon die von Deutschland und den Vereinten Nationen 2001 veranstaltete Petersberger Friedenskonferenz für Afghanistan bemühte sich, lokale Traditionen aufzunehmen. Dutzende Vertreter verschiedener Regionen und Ethnien waren damals eingeladen – nach dem Vorbild der Loya Dschirga, der großen Ratsversammlung, die in Afghanistan eine lange Tradition hat.

Mehrere solche Loya Dschirgas wurden später in Kabul abgehalten – und die Deutschen haben geholfen, sie vorzubereiten und sie organisatorisch unterstützt. Womöglich waren die politischen Entscheidungen falsch, blind aber war die Politik nicht.

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Heute arbeiten neben Juristen und Ökonomen auch Empirische Kulturwissenschaftler,  Länderkundler und Sprachwissenschaftler auch Vertreter der „Postcolonial Studies“ im Auswärtigen Amt, im Verteidigungsministerium, im Entwicklungsministerium und im Bundesnachrichtendienst. Eine „Mischung aus Selbstbetrug, strategischen Fehlern und nackter Ignoranz“ kann man dort lange suchen. Finden wird man sie nicht.

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