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Im Streit um Armutszuwanderung und Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgaren und Rumänen haben die Grünen der CSU "plumpe populistische Stimmungsmache" vorgeworfen.

© dpa

Debatte über Armutsmigration: Die unbedrohliche Drohkulisse

Es ist eine Drohkulisse, die deutsche und britische Politiker von einer Westeuropa überschwappenden Immigrationswelle aus den ärmsten Ländern der EU zeichneten. Doch die Einwanderungswelle von armen Rumänen und Bulgaren blieb bisher aus. Ist die Debatte gerechtfertigt?

Das Verkehrsaufkommen am Busbahnhof der bulgarischen Hauptstadt Sofia war zum Jahresbeginn nicht größer als sonst. Auch am Flughafen herrschte keinesfalls mehr Betrieb. Der befürchtete Aufbruch der Armutsemigranten nach dem Wegfall der letzten Arbeitsschranken für Rumänen und Bulgaren blieb erst einmal aus. Es waren vor allem zurückkehrende Auslandsstudenten und schon länger fern der Heimat arbeitende Bulgaren, die in ansonsten halbleere Busse und Flugzeuge stiegen, um nach Deutschland oder in die britische Metropole London zu reisen.

Nun mag die Erwartung naiv erscheinen, die vor allem von deutschen und britischen Politikern gezeichnete Drohkulisse einer Westeuropa überschwappenden Immigrationswelle aus dem ärmsten Land der EU werde sich über Nacht manifestieren. Bulgarische Politiker und Sozialexperten prognostizieren aber ohnehin, es werde diese in dem befürchteten Ausmaß gar nicht geben. „Die Bulgaren, die emigrieren wollten, haben dies längst getan“, sagt etwa Bulgariens Arbeits- und Sozialminister Hassan Ademov. Tatsächlich haben in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten seit dem Sturz des kommunistischen Regimes 1989 rund zwei Millionen Bulgaren ihr Glück und Auskommen in reicheren Ländern vor allem Westeuropas und Nordamerikas gesucht.

„Armutszuwanderung“ - ein irreführender Begriff

Zusammen mit Rumänien ist Bulgarien 2007 der Europäischen Union beigetreten. In den vergangenen sieben Jahren blieb den Bürgern aber der Zutritt zum EU-Arbeitsmarkt verwehrt. Durch die nun in Deutschland und Großbritannien diskutierten Maßnahmen zur Abschreckung zuzugswilliger Bulgaren und Rumänen sehen sich diese erneut zu EU-Bürgern zweiter Klasse degradiert. „Wir Bulgaren stellen uns viele Fragen zu Demokratie, Toleranz und Humanität der britischen Gesellschaft“, sagte Bulgariens Staatschef Rossen Plevneliev vor Weihnachten der Tageszeitung „Observer“.

Als Bulgariens Außenminister hat Solomon Passy im April 2005 den Beitrittsvertrag seines Landes zur Europäischen Union unterzeichnet. Für das Jahr 2014 erwartet der jetzige Präsident des Atlantischen Klubs in Sofia keine außergewöhnliche Abwanderungsbewegung. Sollte sich eine solche aber einstellen, sieht er darin auch kein Problem, schließlich sei Migration einer der natürlichsten Prozesse der Menschheitsentwicklung: „Die Bulgaren, die zum Arbeiten nach Deutschland oder England gehen, machen Plätze frei, die Zuwanderer einnehmen können.“ In den vergangenen Monaten musste er sich heftig dafür kritisieren lassen, dass er im Gegensatz zur herrschenden Meinung den Zuzug syrischer Flüchtlinge weniger für ein soziales Problem hält als vielmehr darin eine demografische Chance für das schrumpfende Bulgarien sieht.

Auch Rumäniens Regierungschef hatte die bereits seit Monaten andauernden britischen Debatten noch vor dem Jahreswechsel zu entschärfen versucht. Ministerpräsident Victor Ponta betonte, das Gros der auswanderungswilligen Rumänen habe das Land längst verlassen. Schätzungen zufolge arbeiten derzeit schon etwa drei Millionen Rumänen im Ausland – die meisten davon in Spanien und Italien. Auch Rumäniens Botschafter in Deutschland, Lazar Comanescu, hält es für irreführend, Begriffe wie „Armutszuwanderung“ zu verwenden, wenn man über die EU-Freizügigkeit spricht. Armut oder Reichtum seien dafür überhaupt keine Kriterien: „Hier geht es vielmehr um ein zentrales Prinzip der Europäischen Union.“ Comanescu betonte im Gespräch mit dem Tagesspiegel, dass nur ein Bruchteil der Migranten überhaupt Sozialleistungen in Anspruch nehmen würde. Sollte es dabei Betrug geben, müsse man dies bestrafen. Doch von einer Gefahr für Deutschland könne überhaupt keine Rede sein.

Zehntausende Kinder leben in Heimen, bei Verwandten oder Nachbarn, weil die Eltern im Ausland arbeiten

In Rumänien selbst kann niemand die Zahl der Auswanderungswilligen beziffern – Umfragen liefern widersprüchliche Angaben. In Bulgarien rechnet das Forschungsinstitut Alpha Research mit etwa 200 000 Arbeitsmigranten. Als Erstes dürfte gut ausgebildetes Personal aus diesen Ländern abwandern. Deutschland und Großbritannien suchen händeringend Ärzte und Pfleger, aber auch Informatiker und Handwerker. Auf der rumänischen Internetseite „tjobs.ro“ werden Jobs in Deutschland mit einem Bruttolohn von 7000 bis 7800 Euro pro Monat angeboten – so viel verdient ein Durchschnitts-Rumäne nicht einmal im Jahr. Zur Bewerbung genüge ein rumänisch geschriebener Lebenslauf, heißt es in den mehr als 2000 neuen Stellenangeboten aus Deutschland. Ein Arbeitgeber preist sich sogar selbst an: Es lockt „ein berühmtes Analysezentrum in einer der deutschen Großstädte“, das unter anderem Blutgefäßerkrankungen behandelt. Aus Großbritannien landeten zu Jahresbeginn rund 4700 Stellenangebote bei „tjobs.ro“. Die Massen vom Balkan suchte man aber auch am Londoner Flughafen Heathrow am Neujahrstag vergeblich.

Bereits seit 2001 dürfen Rumänen und Bulgaren visumfrei in die Schengen-Zone einreisen. Seither ist die Zahl der Arbeitsmigranten sprunghaft gestiegen. Die Folge: In vielen Dörfern sind schmucke Einfamilienhäuser entstanden, finanziert vom Geld, das Bulgaren und Rumänen nach Hause schicken. Zugleich gibt es ein neues Problem: Zehntausende Kinder leben, teils traumatisiert, in Heimen, bei Verwandten oder Nachbarn, weil die Eltern im Ausland arbeiten. (mit dpa)

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