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Katja Kipping, Ko-Vorsitzende der Linkspartei, geht mit der „Lockerungslobby“ hart ins Gericht - mit ihrem Verhalten riskiere sie eine zweite Infektionswelle.

© AFP/Tobias Schwarz

Das Virus stoppen ist der einzig realistische Ausweg: „Die Lockerungslobby erweckt einen falschen Eindruck“

Was uns die Lockerungslobby als Exitstrategie verkauft, führt nur in eine zweite Infektionswelle. Der Preis wird hoch sein. Ein Gastbeitrag.

Katja Kipping ist Bundesvorsitzende der Partei Die Linke

Die Rufe nach Lockerungen werden lauter. Jede einzelne Lockerung verstärkt die Vehemenz, mit der nach weiteren verlangt wird. Menschlich ist das verständlich. 

Das Wegbrechen der Einnahmen stellt viele vor existentielle Fragen. Ich verstehe den Wunsch vieler Eltern nach offenen Schulen, erlebe ich doch selbst, dass die Kombination von Homeoffice und Homeschooling – so schön es mit dem eigenen Kind ist – an den Kräften zehrt. Wie muss es da Alleinerziehenden ergehen? 

Der Lockerungsdiskurs weckt die Hoffnung auf eine Rückkehr in die alte Normalität. Auch mir ist diese Sehnsucht nicht fremd. Auch ich fiebere mit Freunden mit, deren Existenz gefährdet sind.

Doch das, was uns Lindner, Laschet und Co. als Exitstrategie verkaufen, führt nicht raus aus der Coronakrise, sondern rein in eine zweite Infektionswelle. Dies birgt große Gefahren für Gesundheit wie Wirtschaft. 

Regierung setzt auf abgebremste Durchseuchung 

Im Gegensatz zur Lockerungslobby setzt Angela Merkel auf behutsame Lockerungen. Doch im Grunde folgt der Regierungskurs nach dem Muster: ein Schritt vor – abwarten – dann ein oder zwei Schritt zurück. Vor und zurück – so kann man am Lautstärkeregler agieren, um die optimale Lautstärke einzustellen.

Aber funktioniert so Gesellschaft? Ich bin da skeptisch. So führt doch allein die ständige Debatte über Lockerungen bei vielen zu dem Gefühl: Wir sind übern Berg. So brechen nach und nach im Alltag alle Dämme. (Ich gestehe, ich habe diesen Effekt auch bei mir beobachtet.)  

[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden .]

Der Regierungskurs zielt letztlich nicht darauf, das Virus zu stoppen, sondern darauf, die Infektionskurve abzuflachen. Dieser Kurs erfordert Reproduktionszahlen um die Eins. Soll heißen, ein Infizierter steckt im Schnitt einen weiteren an.

Dieser Kurs hat den Vorteil, dass die Intensivstationen nicht überfordert werden, aber den Nachteil, dass die Einschränkungen über einen langen Zeitraum gehen. Um es zuzuspitzen: Auch die Bundesregierung setzt auf Durchseuchung, wenn auch eine abgebremste. Doch ist Durchseuchung der richtige Weg? 

Die Lockerungen suggerieren den Menschen, die Gefahr sei vorbei. Hier der Berliner Volkspark.
Die Lockerungen suggerieren den Menschen, die Gefahr sei vorbei. Hier der Berliner Volkspark.

© Odd Andersen/AFP

Bisher wurde die Frage, wie viel Menschenleben das Ankurbeln der Wirtschaft wert ist, eher verdrängt. Doch um Herdenimmunität zu erreichen, müssten ca. 70 Prozent an Covid19 erkranken. Das sind ca. 57 Millionen.

Man könnte nun errechnen, wie viele Tote es bis zur Durchseuchung je nach Mortalitätsrate geben wird. Je nachdem entspricht die Zahl der Toten der Einwohnerzahl einer Stadt wie Erfurt oder der doppelten Einwohnerzahl von Dresden. Dabei ist noch nicht sicher, dass eine einmalige Erkrankung zur dauerhaften Immunität führt. 

Auch wissen wir noch wenig über Folgeschäden bei denen, die als genesen gelten. Zu Fällen von schweren Lungenschäden nach der Genesung wird nun eine Studie verschiedener Unikliniken durchgeführt.  

Und glauben wir wirklich, die Wirtschaft würde wieder florieren, wenn die Infektionszahlen explodieren?  

Der Zick-Zack-Kurs ist ökonomischer Irrsinn 

Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung argumentiert, dass die (langfristigen) Kosten einer zu frühen Lockerung viel höher ausfallen werden als bei einer nachhaltigen Lockerung: „Noch schädlicher als länger anhaltende Kontaktbeschränkung wäre eine kurze Lockerung gefolgt von einer neuen, noch mal längeren Phase von Kontaktbeschränkungen“. 

Bei solch einem Zick-Zack-Szenario würde schließlich die Summe der Umsatzausfälle und Betriebsschließungen besonders hoch ausfallen.  

Das Setzen auf Durchseuchung ist also ökonomisch fragwürdig und hat zudem menschlich einen hohen Preis: viele Tote und womöglich schwere Folgeschäden bei Genesenden.  

Dieses Land muss sich eine Strategie zum Stoppen des Virus leisten

Heißt das nun, dass wir im Lockdown verharren bis der Impfstoff da ist? Nein, es gäbe einen Ausweg aus der Coronakrise: Und zwar den Virus zu stoppen. 

Es ist auf jeden Fall wirtschaftlich vernünftiger als der Kurs der Lockerungslobby. Dieses Land muss sich eine Stop-the-virus-Politik leisten, um eine langandauernde Kombination aus verstetigter Pandemie und ökonomischer Dauerkrise zu vermeiden. Dafür muss die Reproduktionszahl auf unter 0,5 gedrückt werden.

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Das erfordert den Mut gegenüber Konzernen knallharte Vorgaben zu machen. So müssten z.B. Unternehmen wie Amazon wissen, dass Nachlässigkeit beim Gesundheitsschutz nicht durchgehen lässt. Der Einbau von Virusbarrieren (z.B. Plexiglasscheiben, die die Verkäuferinnen schützen) muss verpflichtend sein. 

Womöglich muss für einige Wochen die nicht-systemrelevante Produktion runtergefahren werden. Auf jeden Fall muss die Testkapazität enorm ausgeweitet werden. 

Kurzum, die Regierung muss wirtschaftlich steuernd eingreifen. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Seit Monaten ist der Bedarf an medizinischen Masken absehbar (und zwar die Modelle FFP 2 und 3, die effektiv schützen).

Eine Regierung mit Mut zum wirtschaftlichen Steuern hätte Maßnahmen ergriffen, um die Masken-Produktion hochzufahren, zur Not auch mit Eingriffen in Eigentumsrechte im Produktionsbereich. Schließlich geht es um den Gesundheitsschutz der Bevölkerung.  

Die einmalige Vermögensabgabe von 1952 war die Voraussetzung für das deutsche Wirtschaftswunder

Eingreifen muss die Regierung auch, wenn es darum gehen wird, wer die Kosten der Krise tragen wird. Und dafür gibt es eine historische Referenz. 1952 führte Konrad Adenauer eine einmalige Vermögensabgabe zum Lastenausgleich für die Geschädigten des Zweiten Weltkriegs ein.

Diese Maßnahme war eine wichtige Voraussetzung für das westdeutsche Wirtschaftswunder in den 50er Jahren. Es heißt, Corona sei die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Deshalb gilt es die im Grundgesetz vorgesehene Vermögensabgabe zu nutzen. 

Dabei sollten wir vor allem das reichste ein Prozent der Bevölkerung zur Kasse bitten. Auf keinen Fall dürfen die Krisenkosten auf die Mitte und die Armen abgewälzt werden

Um der Rezension entgegenzusteuern, ist es notwendig, dass wir uns von Austeritäts-Instrumenten wie der Schuldenbremse verabschieden und stattdessen ein Zukunftsinvestitionsprogramm für Klimaschutz und soziale Infrastruktur auflegen.  

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Ein 200-Euro-Corona-Aufschlag aus Sozialleistungen

Dieser Ausweg aus der Coronakrise erfordert einen sozialen Schutzschirm. Wichtige Bestandteile dieses Schutzschirms sind  ein Kurzarbeitergeld von 90 Prozent; ein Corona-Überbrückungsgeld für alle deren Einkommen wegbrechen; ein 200-Euro-Corona-Aufschlag auf alle Sozialleistungen und ein Corona-Elterngeld für alle, die wegen der geschlossenen Kitas und Schulen nur eingeschränkt ihrer Erwerbsarbeit nachgehen können. 

[Für alle, die Berlin schöner und solidarischer machen, gibt es den Tagesspiegel-Newsletter „Ehrensache“. Er erscheint immer am zweiten Mittwoch im Monat. Hier kostenlos anmelden: ehrensache.tagesspiegel.de. ]

Zu diesem sozialen Schutzschirm gehört auch eine Politik der Ermöglichung für jene, die besonders betroffenen sind. So sollte natürlich die Notbetreuung geöffnet werden für Kinder von Alleinerziehenden. 

Mehr Schutzräume müssen geschaffen werden für Menschen, die vor häuslicher Gewalt fliehen. Zudem gilt es, in Pflegeheimen gelegentliche Besuche unter Einhaltung des Infektionsschutzes zu ermöglichen, z.B. durch Besuche über den Gartenzaun unter freiem Himmel.  

Das Virus zu stoppen kostet weniger - Geld und Menschenleben

Das Virus zu stoppen wird nicht einfach, aber letztlich ist es der einzige ehrliche Ausweg aus der Coronakrise. Und es kostet letztlich weniger als die falschen Versprechen der Lockerungslobby und weniger als der Zick-Zack-Kurs von Lockerung und Shutdown – weniger Euro und definitiv weniger Menschenleben. 

Deshalb müssen wir raus aus der Spirale der Lockerungsdebatte und rein in eine ernsthafte Verständigung darüber, wie wir das Virus stoppen, welches konsequente Durchgreifen gegenüber Konzernen und welcher soziale Schutzschirm dafür notwendig sind. 

Katja Kipping

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