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Ein Richter am Bundesverfassungsgericht (Symbolbild)

© dpa/Sebastian Gollnow/Pool

Das Verfassungsgerichtsurteil ist kein Freibrief: Die Politik kann in der Coronakrise handeln – aber mit Umsicht

Die Karlsruher Richter binden Parlament und Regierung eng an Erkenntnisse der Wissenschaft. Im Ergebnis sind die Beschlüsse ein Vertrauensbeweis. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Mit zwei einstimmig ergangenen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht umstrittene Maßnahmen der Bundesnotbremse vom Frühjahr gebilligt. Das Ergebnis sowie die Einigkeit, mit der es erzielt wurde, sind erfreulich. Es bestätigt die Politik in ihrem keineswegs fehlerfreien, aber insgesamt verantwortlichen Umgang mit der Pandemie. Es ist ein demokratischer Vertrauensbeweis und darf als Ermutigung gelten, weitere dringend notwendige Maßnahmen auf den Weg zu bringen.

Durchgewinkt wurde nichts

Mit der nötigen Umsicht. Es wäre ein Missverständnis anzunehmen, die Richterinnen und Richter des Ersten Senats hätten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie die Schulschließungen einfach durchgewinkt.

Sie heben heraus, dass es ein Grundrecht ist, sich auch außerhalb von Ehe und Familie mit Menschen zusammenzufinden. Und sie stellen erstmals ein Grundrecht von Kindern auf schulische Bildung fest. Daran ist künftig jede Einschränkung zu messen.

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Eine Pandemie ist ein hoch dynamisches Geschehen. Mit guten Gründen räumt das Gericht Parlament und Regierung Spielräume ein. Das ist aber kein Freibrief. Die Politik wird verpflichtet, ihr Wissen ständig zu mehren und ihr Handeln streng daran zu koppeln, vor allem im Hinblick auf die Folgen des Wegfalls von Präsenzunterricht an Schulen.

Auch unter Bedingungen der Unsicherheit sind Maßnahmen abzustufen. Ein Total-Lockdown muss eine Ausnahme bleiben. Gleichzeitig wird klargestellt, dass Notstände in Krankenhäusern und eine exponentielle Verbreitung des Virus es rechtfertigen, ausnahmsweise zu solchen Mitteln zu greifen.

Viel mehr kann das Gericht nicht leisten

Viel mehr kann ein Verfassungsgericht, das selbst eine „lange andauernden Gefahrenlage“ diagnostizieren muss, in der gegenwärtigen Situation kaum leisten. Es hat die Aufgabe, den Grundrechtsschutz zu sichern; um den Schutz des Lebens und die Qualität der Gesundheitsversorgung hat sich die Politik zu kümmern.

Die klaren Worte aus Karlsruhe könnten den Zuständigen helfen, sich vom Wahlkampfmodus zu lösen und an den nun anstehenden Herausforderungen zu orientieren. Die beiden Beschlüsse sind eine Absage an die in liberalen Lagern vielfach gepflegte Rhetorik, wonach eine entfesselte Exekutive die Bürgerinnen und Bürger in ihren selbstverständlichen Freiheiten beschneidet.

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Es war häufig ein allzu leichtfertiges Gerede, das den Ansichten Querdenkender einen politischen Ernst vermittelt hat, den diese nicht verdienen. Die unnötig zugespitzten Diskussionen um die – übrigens mit ungezählten Ausnahmen versehenen – Ausgangssperren der Notbremse mögen dafür ein Beispiel sein.

Die Politik muss handeln, das Bundesverfassungsgericht bleibt ihr wachsamer Kontrolleur – das ist die Botschaft aus Karlsruhe. Die Bewältigung der Pandemie mit demokratischen und verfassungsgemäßen Mitteln ist möglich. Die dafür erforderliche Gemeinsamkeit kann aus Karlsruhe nicht dekretiert werden. Sie herzustellen, ist Aufgabe von allen.  

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