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An der Küste ihrer Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer haben die Ukrainer Verteidigungsstellungen aufgebaut. 

© Louai Barakat/IMAGO/ZUMA Wire

Das Schwarze Meer als Konfliktschauplatz: „Die Gefahr einer Konfrontation von Russland und Nato ist gegeben“

Auch auf dem Schwarzen Meer führt Russland Krieg. Drei Nato-Staaten, darunter zwei EU-Mitglieder, grenzen an das Gewässer. Das birgt Risiken. Ein Interview.

Von Hans Monath

Das Schwarze Meer ist weit mehr als ein Urlaubsort für Deutsche und insbesondere früher für DDR-Bürger. Das zwischen Südosteuropa, Osteuropa und Vorderasien gelegene Binnenmeer ist für seine Anrainer Nahrungsquelle, Wirtschaftsraum, Verkehrsweg, Machtbasis - und seit Russlands Angriff auf die Ukraine Kriegsschauplatz.

Das birgt Risiken, denn drei Nato-Länder (Bulgarien, Rumänien, Türkei), von denen zwei auch der EU angehören, grenzen an das Gewässer. Die Anrainerstaaten Moldau und Georgien gelten als Ziel möglicher weiterer russischer Expansion - und sind weit kleiner und schlechter gerüstet als die Ukraine.

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Miriam Kosmehl ist Expertin für Osteuropa und die Nachbarschaft der EU bei der Bertelsmann-Stiftung. 2020 veröffentlichte sie gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus der Region die Studie "Antagonismen in der Nachbarschaft der Europäischen Union #3. Geopolitische Ambitionen in der Schwarzmeer-/Kaspischen Region", die auch Grundlage ihrer Thesen im Gespräch mit dem Tagesspiegel ist. Sie arbeitete zudem fünf Jahre lang für die Friedrich-Naumann-Stiftung in Kiew.

Frau Kosmehl, was bedeutet der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine für die Anrainer des Schwarzen Meeres?
Deren Sicherheitsinteressen sind durch die Auswirkungen des Krieges noch einmal mehr bedroht. Die ukrainische Schlangeninsel, die russische Truppen gleich zu Beginn des Krieges ins Visier nahmen, ist keine 50 Kilometer von der rumänischen Küste entfernt. Keine 400 Kilomater Luftlinie trennen die von Russland annektierte Krim und die rumänische Hafenstadt Konstanza.

Seit der Annexion hatte das Putin-Regime die Kontrolle über die ganze Schwarzmeerregion beständig ausgebaut, die Krim als Stützpunkt hochgerüstet, die Schwarzmeerflotte mit Kurz- und Mittelstreckenraketen modernisiert, insbesondere mit den seegestützten Marschflugkörpern Kalibr. Außerdem sind auf der Krim die Boden-Boden-Kurzstreckenraketen Iskander stationiert sowie auch landgestützte Marschflugkörper.

Die Resultate der Aufrüstung kommen aktuell gegen ukrainische Städte zur Anwendung, aber sie können natürlich auch gegen die Küsten und Marinen der Anrainer eingesetzt werden. Mit der Stationierung moderner Raketenluftabwehrsysteme im Schwarzmeerraum hat Russland zudem eigene Schutzschirme entwickelt. Das Ziel hier ist, dem Gegner den Zugang zu einem ausgewählten Gebiet zu verweigern. Im Fachjargon heißen sie "A2AD"-Zonen, "Anti-Access Area Denial".

Drei Nato-Staaten grenzen ans Schwarze Meer. Wie trifft sie das Vorgehen Russlands?
Die eingangs genannte Schlangeninsel ist aus russischer Sicht ein wichtiger Ort, um den russischen Schutzschirm über dem Schwarzmeerraum noch zu erweitern. So lässt sich nicht nur die Schwarzmeerregion umfassender kontrollieren, es kann vor allem den Bündnispartnern der Anrainer im Ernstfall erschwert werden, ihre Partner zu unterstützen.

Sowieso sind die wirtschaftlichen Interessen der Anrainer noch einmal mehr beschnitten, durch das Schwarze Meer gehen ja wichtige Schifffahrtsrouten und Wasserstraßen. Sicherheit und Freiheit der Schifffahrt sind gefährdet, noch mehr als zuvor schon, als Russland nach Gutdünken die Schifffahrt in bestimmten Meeresgebieten beschränkt hat, dort Manöver durchgeführt hat, selbst in den Außenwirtschaftszonen Bulgariens und Rumäniens, also die Souveränität der Anrainer und die Freiheit der Schifffahrt missachtet hat.

Dazu kommen jetzt direkte Angriffe auf Handelsschiffe und die Gefahr von Minen. Und wenn Russland die Landzunge zur Krim und gegebenenfalls darüber hinaus halten kann, ist das natürlich auch eine verschärfte Sicherheitsbedrohung für die Republik Moldau.

Miriam Kosmehl ist Expertin für Osteuropa und die EU-Nachbarschaft bei der Bertelsmann-Stiftung.
Miriam Kosmehl ist Expertin für Osteuropa und die EU-Nachbarschaft bei der Bertelsmann-Stiftung.

© Kai Uwe Oesterhelweg/Bertelsmann

Kann die Ukraine wirtschaftlich überleben, wenn Sie wie gegenwärtig nur noch einen großen Hafen kontrolliert?
Das wirtschaftliche Überleben wird der Ukraine damit zumindest extrem schwer gemacht, die Situation würde sich noch einmal maßgeblich verschlechtern. Die Zerstörung der Industriemetropole Mariupol und die Blockaden der Häfen Berdyansk und Kherson sind schon schwer genug zu bewältigen, und selbst die Ausgangssituation vor dem russischen Angriffskrieg war ja bereits eine des durch russische Teilblockaden dezimierten, teilweise halbierten Handelsvolumens.

Jede Blockade führt zur Einbuße von Millionen Tonnen an Fracht und verstärkt so die negativen ökonomischen Effekte für die Ukraine. Wenn nun auch noch der große Hafen von Odessa ausfiele als wesentliche und letzte Versorgungslinie wäre das in mehr als einer Hinsicht katastrophal. Die Ukraine ist ja ein elementar wichtiger Getreideexporteur, so dass die Auswirkungen auch etwa in Ländern der südlichen Nachbarschaft der EU zu spüren wären, also "supply shocks" (ausbleibende Versorgung). Deshalb ist es ja insgesamt von elementarer Bedeutung, dass die Ukraine mit ausreichend Anti-Schiffs-Raketen ausgestattet wird, so dass weitere Angriffe auf Odessa abgewehrt werden können.

Sehen Sie die Gefahr, dass es auf dem Schwarzen Meer zu einer Konfrontation von Nato und Russland kommen kann?
Wir müssen begreifen, dass das Putin-Regime die Eskalationsdominanz hat. Das heißt, die Gefahr einer Konfrontation von Nato und Russland auf dem Schwarzen Meer ist gegeben – aber nicht erst seit dem offenen Angriffskrieg, den Russland am 24. Februar begonnen hat. Bereits die Erklärung des NATO-Gipfels 2016 in Warschau benannte „groß angelegte überraschend angesetzte Übungen (so genannte "snap excercises") unter Verletzung des Wiener Dokuments (der Verhandlungen über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen der OSZE) und „provokatives militärisches Vorgehen in der Nähe der Grenzen der NATO“ als eine Form destabilisierenden Verhaltens Russlands im Schwarzmeerraum. 

Wie verlässlich ist die Türkei als Nato-Partner? 
Diese Frage geht an den Kern des Problems, das sich uns stellt, weil wir zugelassen haben, dass Russland über eine Politik der kleinen Schritte, ein fortwährendes Austesten, wie weit es gehen kann, ohne dass eine Gegenreaktion erfolgt, so stark geworden ist in dieser wichtigen Region. Die ehrliche Antwort ist: Wir wissen schlicht nicht, wie zuverlässig die Türkei als Bündnispartner ist.

Können Sie das erläutern?
Einerseits hat Ankara in seinen Beziehungen zur Ukraine bislang immer noch das eigene Bündnis mit Moskau noch im Auge behalten, bei aller Kooperation mit der Ukraine auch im Sicherheits- und Verteidigungsbereich und trotz des ganz besonderen Bands zu den Krimtataren, mit denen eine historische und kulturell enge Verwandtschaft besteht.

Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland sind erheblich, russische Touristen bringen Geld in die türkische Staatskasse, Energielieferungen spielen eine Rolle. Die Türkei konkurriert mit Russland, ist gleichzeitig in mancherlei Hinsicht abhängig von Russland und kann und will sich jedenfalls keine offene Konfrontation leisten, hat sogar gezielt eine Schaukelpolitik betrieben, hier ist der Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 das gravierendste Beispiel.

Weil die Türkei gleichwohl neben Russland die stärkste Macht in der Region ist, hängen wir (auch) ab vom künftigen Verhalten der Türkei, wenn es darum geht, der Dominanz Russlands im Schwarzmeerraum Einhalt zu gebieten. Insofern sollte die Frage vielleicht nicht nur lauten, wie verlässlich die Türkei als NATO-Partner ist, sondern darüber hinaus, wie die Türkei klug eingebunden werden kann in eine politische und wirtschaftliche Allianz mit der EU und den USA. 

Auch Odessa wurde schon von russischen Raketen getroffen. Oft greift das russische Militär Treibstofflager an.
Auch Odessa wurde schon von russischen Raketen getroffen. Oft greift das russische Militär Treibstofflager an.

© BULENT KILIC/AFP

Welche Interessen verfolgt China rund um das Schwarze Meer?
Insgesamt verfolgt China auch in der Schwarzmeerregion langfristig das Ziel, geopolitisch nützliche Allianzen zu erschaffen. China will dem europäischen Integrationsmodel eine Alternative entgegensetzen, Parallelstrukturen etablieren. Mit der neuen Seidenstraße, englisch Belt and Road Initiative (BRI), will China die Infrastruktur Eurasiens integrieren.

Die Schwarzmeerregion ist dabei ein Teil dieses umfassenderen Plans, weil sie als Bindeglied zwischen Asien und Europa für die Integration Eurasiens geographisch bedeutend ist. Es geht nicht nur darum, Märkte für chinesische Güter zu erschließen, sondern um infrastrukturelle Erschließungen und das Durchsetzen chinesischer Standards, etwa der Eisenbahntechnik oder der Telekommunikation, also um strategische Investitionen (Häfen, Schienen, Energie). Über Kredite und Investitionen will China schließlich dort Einfluss nehmen, wo diese Unterstützung angenommen wird.

Welcher Plan steckt dahinter?
Chinas Aktivitäten und Absichten gehen über den Bau von Infrastruktur hinaus, zielen darauf, die Schwarzmeerregion zum Teil einer ökonomischen und politischen Pro-China-Achse zu machen. Dabei bieten wirtschaftliche Verflechtungen Beijing die Möglichkeit, politischen Druck auszuüben. Durch Investitionen in die wirtschaftlich ärmeren EU-Mitgliedsstaaten versucht China, eine einheitliche EU-Chinapolitik zu hintertreiben.

Wenn China mit seinen Infrastrukturprojekten im Rahmen der BRI versucht, eine Alternative für ausbleibende oder weniger ambitionierte europäische Initiativen zu sein, ist auffällig, dass China seine Investitionsvorhaben und institutionellen Ansätze eher konfrontativ als ergänzend positioniert und sich auch immer auf die bilateralen Beziehungen zu den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten fokussiert, nicht auf Brüssel.

Die EU-Mitgliedsstaaten Zentraleuropas will China mit dem Schwarzen Meer und Eurasien verbinden, damit zentralasiatische Rohstoffe und chinesische Güter noch besser nach Europa geliefert werden können. Vielversprechend ist aus Sicht Chinas auch die Türkei, aufgrund ihrer geographischen Lage, aber auch weil sie aus Sicht Beijings nicht „dem Westen“ zugeordnet ist, dessen Dominanz es - aus chinesischer Perspektive - zu brechen gilt.

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