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Russland präsentierte bei einem Medien-Briefing die 9M729-Rakete. Die Rakete ist ein Grund, warum die USA das INF-Abkommen gekündigt haben.

© imago/ITAR-TASS

Das Risiko eines neuen Wettrüstens: „Ich halte das für eine gefährliche Entwicklung“

Sicherheitsexperte Richter schließt nach dem INF-Vertragsende ein Wettrüsten nicht aus. „Was hier passiert, ist besorgniserregend“, sagt er im Interview.

Der ehemalige Oberst Wolfgang Richter ist Experte für Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Was bedeutet das Ende des INF-Vertrages für die Sicherheitslage in Europa?
Für die Sicherheitslage selber ändert sich zunächst nicht allzu viel. Der Vertrag verbietet bodengestützte Marschflugkörper und ballistische Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 km. Er verbietet aber nicht seegestützte Systeme oder aus der Luft abgefeuerte Systeme, die die gleiche Reichweite und Traglast haben. Insofern hat sich die Bedrohung aus militärischer Sicht nicht substantiell verändert, zumal wir es im Moment noch mit sehr kleinen Systemzahlen zu tun haben, die diesseits und jenseits des Ural stationiert sind. Es geht um vier Bataillone der umstrittenen russischen Marschflugkörper SSC8. Politisch, allerdings, ist das sehr schwerwiegend.

Warum ist das so ein Problem?
Erstens nimmt der Vertrauensverlust weiter zu, der ohnehin schon zwischen Russland und dem Westen, insbesondere den USA, eingetreten ist. Ich erinnere an die Stichworte Ukraine, Krim, Syrien und etc. Zum anderen aber, erleben wir die Erosion der Rüstungskontrolle, das heißt der Vertragsgrundlagen, mit denen der kalte Krieg überwunden worden ist. Und das waren ja auch mal die Grundfesten eines neuen Europa, das auf der Basis der Sicherheitskooperation aufgebaut werden sollte. Und jetzt erleben wir die Erosion dieser Verträge, ich erinnere hier an den Vertrag über die strategische Raketenabwehr, der schon 2001 durch den damaligen US-Präsidenten George W. Bush abgewickelt worden ist. Dann erinnere ich an die lange Erosion des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa, ebenfalls ein Meilenstein auf dem Wege zur Überwindung des Kalten Krieges. Derzeit beobachten wir die aktuelle Diskussion über den amerikanischen Ausstieg aus dem sogenannten JCPOA, dem Vertrag mit dem Iran, um das iranische Atomprogramm zu bremsen. Und nun müssen wir also konstatieren, dass auch der vierte Eckpfeiler der Rüstungskontrolle, vor allem im nuklearen Bereich, nämlich der INF-Vertrag Geschichte ist.

Was bedeutet das für die atomare Abrüstung?
Das heißt, es bleibt dann nur noch der New Start-Vertrag, der strategische Waffen der USA und Russlands begrenzt. Dabei handelt es sich um interkontinentale Waffensysteme, die über eine Reichweite von über 5500 km verfügen. Dieser Vertrag läuft im Februar 2021 aus, es sei denn, die beiden Seiten entscheiden sich in den jetzt noch verbleibenden 18 Monaten dazu, diesen Vertrag zu verlängern. Der Vertrag sieht die Möglichkeit vor, ihn bis zu fünf Jahren zu verlängern. Und diese Verlängerung braucht man, um einen Nachfolgevertrag zu verhandeln, der allerdings umfangreicher sein muss, als das, was im New-Start-Vertrag festgelegt worden ist. Wenn das nicht der Fall ist, hätten wir Anfang 2021 zum ersten Mal seit dem Beginn der 1970er Jahre eine Situation, in der Nuklearwaffen überhaupt nicht mehr rechtsverbindlich begrenzt sind. Das heißt, die politische Dimension dessen, was hier passiert, ist besorgniserregend, weil es dann keine rechtsverbindlichen Mittel mehr gibt, um Stationierungs- und Rüstungswettläufe zu bremsen.

Also kommt nun ein neues gefährliches Wettrüsten?
Das kann man nicht ganz ausschließen. Ich hoffe, dass das nicht der Fall sein wird, aber wir erleben schon jetzt zumindest einen qualitativen Rüstungswettlauf. So gibt es zum Beispiel  Überschallwaffen, die derartig schnell fliegen, dass sie nicht frühzeitig detektiert, geschweige denn abgewehrt werden können. Diese Systeme lassen nur wenige Minuten für die Reaktion. Wir beobachten also schon jetzt destabilisierende Entwicklungen. Wir brauchen neue Rüstungskontrollverträge, um solcheEntwicklungen in den Griff zu kriegen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass es neben den beiden großen Nuklearmächten weitere Nuklearwaffenstaaten gibt, die keinen Rüstungskontrollverträgen angehören. Sie haben allerdings weitaus weniger Potential.

Wie könnte Deutschland hier vermitteln?
Außenminister Maas hat darüber gesprochen, den INF-Vertrag zu multilateralisieren oder in Zukunft multilaterale Verträge zu schließen. Das wird schwierig, denn es besteht noch ein sehr großer Unterschied in der Zahl der Nuklearsprengköpfe. Im Falle der USA und Russland sprechen wir noch immer über jeweils mehr als 6000 Nuklearsprengköpfe, nicht alle aktiv, aber immerhin, sie existieren. Im Falle Chinas reden wir über weniger als 300. Und die Chinesen sagen natürlich, „wenn ihr multilateralisieren wollt, dann kommt ihr erst einmal auf die wenigen hundert Sprengköpfe herunter, über die wir verfügen, bevor ihr mit euren vielen Tausenden uns auffordert, uns daran zu beteiligen.“ Und das ist das Schwierige an der Situation. Zudem wird oft bei dieser Diskussion vergessen, dass ja auch Großbritannien und Frankreich über eine ähnliche Größenordnung an Nuklearwaffen verfügen. 

Der ehemalige Oberst Wolfgang Richter ist Experte für Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
Der ehemalige Oberst Wolfgang Richter ist Experte für Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

© promo

Wer trägt die Schuld an der Erosion der Abrüstungskontrolle?
Ich fange zunächst mal mit den USA an. In den USA gibt es seit den Zeiten von George W. Bush  kein wirkliches Interesse an Rüstungskontrolle mehr und ich schließe hier die konventionelle Rüstungskontrolle ein. So erfolgte der Ausstieg aus dem Vertrag über die strategische Raketenabwehr schon unter Bush im Jahr 2002. In seiner Zeit hat dann auch die Erosion des KSE-Vertrags eingesetzt, des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa. Unter Präsident Obama haben wir eine Rückkehr zur Rüstungskontrolle erlebt. So hat er es vermocht, den New-Start-Vertrag ins Leben zu rufen. Heute halten Sicherheitsberater wie John Bolton diesen New-Start-Vertrag für falsch, für nicht ausreichend. Er hat sich deutlich dazu geäußert, dass er es nicht für sinnvoll hält, den New-Start Vertrag zu verlängern. Ich halte das für eine gefährliche Entwicklung.

Und Russland?
Russland treibt den qualitativen Rüstungswettlauf voran. Russland hat vor allem Angst davor, seine Zweitschlagfähigkeit zu verlieren. Dazu muss man wissen, dass immer noch die gegenseitige Vernichtungsfähigkeit die Geschäftsgrundlage ihrer der nuklearen Rüstungskontrollverträge zwischen den USA und Russland ist. Das heißt, wer einen ersten Schlag auslöst, wird mit dem überlebensfähigen Potential im zweiten Schlag ebenfalls vernichtet. Das ist das „Gleichgewicht des Schreckens“, das bisher vor dem nuklearen Erstschlag abschreckte und daher eine stabilisierende Wirkung hatte. Würde eine Seite diese Zweitschlagfähigkeit verlieren, wäre sie erpressbar. Deswegen gibt es diese Angst Russlands vor fortschrittlichen Waffenentwicklungen, etwa dass die US-Raketenabwehr einen russischen Zweitschlag abwehren könnte, was ich allerdings für technisch fast ausgeschlossen halte. Zudem befürchtet Moskau, dass man mit besonders schnellen, auch konventionellen Waffensystemen präzise Schläge gegen strategische Ziele führen könnte, sodass man am Ende entwaffnet wird. Diese russischen Befürchtungen haben dazu geführt, dass Putin vor etwa eineinhalb Jahren in einer Rede an die Nation neue „Wunderwaffen“ vorstellte, welche die . Zweitschlagfähigkeit erhalten würden, egal was die Amerikaner tun. Das heißt, die USA und Russland reagieren aufeinander durch neue Waffenentwicklungen.

Aber heute gibt es ja anders als im Kalten Krieg ohnehin ganz neue Player, die auch in die Abrüstung eingebunden werden müssten, vor allem China.
Ja, auch die Chinesen haben ebenfalls Angst vor einer verbesserten Raketenabwehr, zumal sie nur ein sehr geringes Zweitschlagpotential haben. Sie versuchen nun, es durch modernere Weiterentwicklungen zu erhalten. Die Frage „Wer hat denn nun Schuld“ hilft daher nicht weiter. Man muss aber diesen Entwicklungen mit politischem Nachdruck entgegentreten. Alle Seiten müssen wieder anerkennen, dass die Welt nicht durch Rüstungswettläufe stabiler wird, sondern nur durch strategische Begrenzungen, die dann auch rechtsverbindlich festgelegt werden müssen. Das heißt, Rüstungskontrolle muss wieder ernst genommen werden und dazu gehören die Schritte die ich vorhin genannt habe. Der erste Schritt wäre es, den New-Start-Vertrag zu verlängern. Der Zweite Schritt müsste darin bestehen, dass die NATO und Russland sich durch parallele politische Erklärungen darauf verständigen, jetzt keinen Stationierungswettlauf in Europa mit bodengestützten INF-Waffen zu beginnen. Das wären Anfänge, und darauf kann man dann aufbauen, wenn es um die Neugestaltung eines Vertrags zur nuklearen Rüstungskontrolle geht.

Wie könnte denn eine Neugestaltung eines solchen Vertrages aussehen?
Neue Elemente der Rüstungskontrolle sind neue Waffensysteme, die die alten Verträge nicht abbilden, die aber destabilisierend wirken können. Ich denke da an Hyperschallwaffen, an Hyperschalldrohnen, also sehr präzise weitreichende Waffen, die auch konventionell gegen strategische Ziele eingesetzt werden können. Und ein neuer Vertrag bietet natürlich die Chance, die bisherigen Definitionen und Reichweitenbegrenzungen zu erweitern, um dann am Ende auch neue Systeme erfassen zu können, zum Beispiel inaktive Sprengköpfe, Reservesprengköpfe, aber auch Trägermittel geringerer Reichweite.

Und was ist mit der Einbindung anderer Atommächte?

Die Multilateralisierung ist ein anderes Problem. Hier haben wir ein Ungleichgewicht zwischen den offiziellen fünf Kernwaffenstaaten, nämlich auf der einen Seite Russland und die USA mit jeweils über 6000 Nuklearwaffen,  und auf anderen Seite die Briten, Franzosen und Chinesen mit jeweils zwischen 200 und 300 Nuklearwaffen. Ich glaube nicht, dass die drei kleineren jetzt den Zeitpunkt bereits gekommen sehen, um sich an der nuklearen Rüstungskontrolle zu beteiligen. Aber man könnte ja zumindest einen Einstieg wagen und mehr Transparenz vorschlagen, etwa einen gegenseitigen Datenaustausch. Auch eine Absichtserklärung der kleineren Nuklearmächte wäre hilfreich, die besagt „wenn ihr – die USA und Russland – an einer bestimmten Schwelle angekommen seid, etwa bei unter 1000 Nuklearwaffen, dann werden wir uns beteiligen“. China besitzt sehr viele landgestützte Raketen, wahrscheinlich zwischen 1600 und 1800, die sie an der Küste zum Ost- und Südchinesischem Meer aufgestellt haben. Sie bedrohen nicht die USA als Kontinent, aber sie haben die Aufgabe, den amerikanischen Flugzeugträgergruppen den Zugang zu diesen beiden Meeren zu verwehren, zum Beispiel im Falle einer Krise um Taiwan. Hier gibt es also ein weiteres strategisches Ungleichgewicht, da die Amerikaner ihre erweiterte Abschreckung in diesem Raum auf see- und luftgestützte Waffen abstützen, während die Chinesen das in diesem Umfang nicht tun können oder bisher nicht getan haben. Der Deal, den Trump vor einem Jahr angedeutet hat, wäre daher sehr ungleichgewichtig. Die Chinesen müssten auf 90 Prozent ihrer Raketen verzichten und die Amerikaner auf null, da sie keine INF-Raketen dieser Art haben. Also wenn die Multilateralisierung Sinn machen soll, müssten see- und luftgestützte Waffen miteingeschlossen werden

Sebastian Rauball

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