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Wahlplakat mit Katharina Fegebank (Grüne) neben dem von Peter Tschentscher (SPD). Rund 1,3 Millionen Hamburger sind am Sonntag zur Wahl einer neuen Bürgerschaft aufgerufen.

© Bodo Marks/dpa

Wahl in Hamburg: Wenn Quertreiber und Sanitäter plötzlich beste Chancen haben

Kandidaten, die bei ihren Berufen schummeln und politische Irrlichter: Die kuriosen Folgen des reformierten Hamburger Wahlrechts.

Das Hamburger Wahlrecht zu erklären ist wie über Kernspaltung zu schreiben: kompliziert. Das Schöne an Bundestagswahlen oder den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus ist ja: Es ist so einfach. Zwei Stimmen, eine für den Wahlkreis und die andere für die Landesliste der Partei. Fertig. Anders in Hamburg: Die Hanseaten gönnen sich zehn Stimmen. Und die wollen erst mal verteilt werden.

Auch in Hamburg gibt es zwei Wahlzettel. Der eine ist für den Wahlkreis, der andere für die Landesliste. Pro Wahlzettel gibt es fünf Stimmen zu verteilen, und damit geht’s erst richtig los: Die Varianten sind quasi endlos. Entweder alle auf einen, soll heißen: fünf Stimmen für einen Kandidaten. Oder auch nur drei. Und zwei an jemand anders. Oder gar nicht, und alle auf eine Liste.

Panaschieren und Kumulieren nennen sich die komplizierten Verfahren. Zu bemitleiden sind jedoch nicht nur die Wähler, die sich durch eine schier endlose Auswahl an Möglichkeiten durch mehrseitige Wahlzettel arbeiten – sondern vor allem diejenigen, die das Ganze am Ende auszählen müssen. Deswegen wird es bis zum vorläufigen amtlichen Endergebnis voraussichtlich auch etwas länger dauern.

Das Wahlrecht ist in Hamburg auf Betreiben des Vereins „Mehr Demokratie“ nach einem erfolgreichen Volksbegehren 2009 reformiert worden. Gerechter soll es zugehen, denn ein wesentlicher Effekt dieses Wahlsystems ist: Auch Kandidaten der hinteren Listenplätze haben eine Chance, weil die Wähler ihre Stimmen auch häufen und ihnen direkt geben können. Der Filter durch die von den Parteien aufgestellten Listen fällt nahezu weg.

Auch Quertreibern lässt sich der Listenplatz nicht nehmen

So kommt es, dass Kandidaten wie zum Beispiel Tom Radtke eine Chance haben können, in die Bürgerschaft einzuziehen. Der 18-jährige Linken-Kandidat mit dem normalerweise eher aussichtslosen Listenplatz 20 hatte vor wenigen Wochen kurzzeitig für Aufsehen gesorgt: In einem Tweet, seinem ersten überhaupt, verglich er am Holocaustgedenktag den Holocaust mit dem Klimawandel und legte anschließend mit Pädophilie-Vorwürfen gegen einen Parteigenossen nach.

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Seither veröffentlicht er Behauptungen von einer Unterwanderung der Fridays-for-Future-Bewegung durch die Grünen, streitet sich juristisch mit Klimaaktivistin Luisa Neubauer um die Veröffentlichung eines Audiomitschnitts einer Whatsapp-Nachricht und wird inzwischen vom Medienanwalt Ralf Höcker vertreten. Seine zum Teil wirren Tweets mit wüsten Unterstellungen wurden tausendfach geteilt und kommentiert, er schaffte es damit in die Medien und hielt für einige Tage Twitter in Atem.

Hinweise auf einen "Platz 31-Effekt"

Die Hamburger Linke distanzierte sich umgehend von ihrem Kandidaten und leitete ein Parteiausschlussverfahren ein. Seinen Listenplatz indes kann ihm, einmal aufgestellt, keiner mehr streitig machen. Über seine Motive kann derweil nur spekuliert werden: Während ihm die Hamburger Linke öffentlich eine psychische Erkrankung attestierte, glauben andere, der Wirbel sei ein Wahlkampfmanöver, um Aufmerksamkeit und Stimmen zu generieren. Im Hamburger Wahlkampf selbst, also jenseits von Twitter und Medien, spielt Radtke jedoch keine große Rolle.

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Warum die Linke ihn auf ihrer Liste überhaupt aufgestellt hat: Unklar. Klargestellt hat der Landesgeschäftsführer inzwischen allerdings, dass Tom Radtke, sollte er tatsächlich in die Bürgerschaft gewählt werden, nicht Teil der Linken-Fraktion werden soll.

Insgesamt spielt in Hamburg aber nicht nur die Personenwahl eine große Rolle, sondern auch die Wahlzettelpsychologie: So gibt es Hinweise auf eine Art „Platz 31-Effekt“ auf den Listen: Einige Kandidaten mit dem normalerweise eher aussichtslosen Listenplatz 31 erhielten zuletzt im Vergleich überdurchschnittlich viele Stimmen.

Sanitäter kommen bei den Wählern gut an

Des Rätsels Lösung: Platz 31 steht auf dem zweiten Blatt des Wahlzettels ganz oben. Und auch nach Berufsbezeichnungen wählen die Hamburger offenbar gern.

Das lädt zum Tricksen bei Berufsbezeichnungen ein: Ein bekanntes Beispiel ist das des früheren SPD-Kandidaten und Kritikers des reformierten Wahlrechts Hauke Wagner, der das System im Jahr 2015 ad absurdum führte und sich vor der Aufstellung über die angesehensten Berufe informierte: Er, von Beruf Diplom-Volkswirt, besuchte vor der Bürgerschaftswahl einen zweitägigen Sanitäterkurs inklusive Abschlussprüfung. Auf dem Wahlzettel stand schließlich: Hauke Wagner, Rettungssanitäter. Die Partei war nicht begeistert, Wagner aber zog in die Bürgerschaft ein.

Karolina Meyer-Schilf

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