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Ein Flüchtlingskind in einem Camp an der belarussisch-polnischen Grenze.

© Kacper Pempel, Reuters

Das Leiden im Blick, nicht die Prinzipien: Merkel telefoniert mit Lukaschenko, ist das richtig?

Angela Merkel hat zweimal mit Lukaschenko telefoniert. Dafür wurde zum Teil heftig kritisiert. Dabei geht es um Menschen, um Humanität. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Es geht um Menschen. Das steht im Vordergrund, wenn Einigkeit und Standhaftigkeit eingefordert, Prinzipien und demokratische Werte betont werden. In diesem Fall geht es um Tausende, die von Schleppern missbraucht wurden und bei eisigen Temperaturen in einem Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen übernachten müssen. Sie konnten bis vor kurzem weder vor noch zurück.

Alexander Lukaschenko, der belarussische Machthaber, instrumentalisiert sie auf brutale Weise. Er erpresst die Europäische Union, weil sie ihn nach massiven Wahlfälschungen nicht als Präsidenten anerkennt. Lukaschenko hält sich nur mit Gewalt an der Macht, die Oppositionsbewegung hat er niederknüppeln lassen. Die EU reagierte darauf mit Sanktionen.

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Angela Merkel, die geschäftsführende Bundeskanzlerin, hat in dieser Woche zweimal mit Lukaschenko telefoniert. Das geschah, nachdem sie in der vergangenen Woche zweimal mit Wladimir Putin telefoniert hat, dem Schutzpatron Lukaschenkos. Für diese Initiative wurde sie im In- und Ausland zum Teil heftig kritisiert.

Der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripur sagte im Deutschlandfunk, das Telefonat sei „verheerend“ gewesen, Merkel habe „leider Gottes“ einen Beitrag dazu geleistet, dass Lukaschenko als Präsident legitimiert und die europäische Politik in dieser Frage „komplett konterkariert“ werde.

„Der braucht einen langen Löffel, der mit dem Teufel isst“

Jörg Meuthen, der für die AfD im Europaparlament sitzt, schrieb auf Twitter, Merkel werte Lukaschenko unnötig auf und „vergrätze mit ihrer Sonderdiplomatie unsere polnischen Freunde“. In der Tat fühlten sich Politiker in Polen und den baltischen Staaten von Merkel übergangen.

„Der braucht einen langen Löffel, der mit dem Teufel isst“, heißt es in der „Komödie der Irrungen“ von William Shakespeare. Die Geschichte ist reich an Beispielen, die das belegen. Der vehemente Antikommunist Richard Nixon reist 1972 nach China und trifft den Erz-Kommunisten Mao Zedong, die langen Löffel im Gepäck. George H.W. Bush schickt im Januar 1991 seinen Außenminister nach Genf zu Konsultationen mit Saddam Husseins Außenminister. Kurz zuvor hatte der Irak Kuwait überfallen und annektiert.

In der Sprache der Diplomatie nennt man das Realpolitik

Donald Trump sucht die Nähe von Kim Jong Un, obwohl in Nordkorea laut US-Außenministerium rund 100.000 Menschen aus politischen oder religiösen Gründen inhaftiert sind. Auf dem „World Press Freedom Index“ steht das Land auf dem letzten Platz. Joe Biden, der neue US-Präsident, nennt Putin einen „Killer“ und wirft der chinesischen Regierung vor, einen „Völkermord“ an den überwiegend muslimischen Uiguren zu verüben. Das aber schließt Gespräche und Treffen Bidens mit Putin und Xi nicht aus. In der klassischen Sprache der Diplomatie nennt man das Realpolitik.

Idealpolitiker argumentieren dagegen dogmatisch. Sie rufen „München“ und „Appeasement“ und erinnern an das Treffen 1938 von Neville Chamberlain und Adolf Hitler. Doch nicht das Treffen an sich war ein folgenschwerer Fehler, sondern dass Chamberlain die Tschechoslowakei preisgab.

Was wäre denn die Alternative?

Von Merkel sind substanzielle Offerten an die Adresse Lukaschenkos nicht bekannt. Bis zum Beweis des Gegenteils sollte ihr folglich zugebilligt werden, dass es ihr in den Telefonaten ausschließlich um die humanitäre Versorgung der Migranten und Möglichkeiten der Rückkehr in die Herkunftsländer ging. Sie wollte ausloten, inwiefern das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR darin eingebunden werden kann. Im Gespräch ist nun offenbar auch ein Korridor, durch den ein Teil der Migranten nach Deutschland und in die Europäische Union gelangen könnte. Was wäre denn die Alternative?

Merkels Kritiker setzen auf erhöhten Druck, politische Isolation und weitere Sanktionen. Das klingt hart und stark. Aber ist es das? Erst ein Mal in der Geschichte wurde ein Regime durch ökonomische Repressalien in die Knie gezwungen, das war das Apartheits-Südafrika. Doch ob Birma, Sudan, Simbabwe oder Kuba, Slobodan Milosevic, Saddam Hussein, die Mullahs im Iran oder Wladimir Putin: In aller Regel sitzen Autokraten und Tyrannen die gegen sie verhängten Sanktionen aus, oft über Jahre, manchmal über Jahrzehnte.

Nachgiebigkeit ermuntert zur Wiederholung

Der Ruf nach Sanktionen befriedigt vor allem das eigene moralische Gewissen, weil er jenseits von Ignoranz und Militärintervention Entschlossenheit suggeriert, ohne als offene Aggression verstanden werden zu müssen. Eine Verhaltensänderung der Betroffenen ist damit leider nicht verbunden. Ausnahmen – wie einst in Südafrika – bestätigen die Regel.

Lukaschenko muss geächtet bleiben, sein Erpressungsversuch darf nicht belohnt werden. Jede Nachgiebigkeit ermuntert zur Wiederholung. Das Urteil über ihn und seine Machenschaften ist klar und eindeutig. Diese Fixierung indes sollte nicht den Blick verstellen auf das Los der geschundenen Migranten an der belarussisch-polnischen Grenze. Wer politische Prinzipien über die akuten Bedürfnisse notleidender Menschen stellt, tritt die Humanität mit Stiefeln.

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