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Spritpreise in Deutschland steigen immer weiter.

© IMAGO/Reichwein

Das kategorische „Nein“ ist verstummt: Nur eine Frage der Zeit, bis Deutschland Energieimporte stoppt

So beängstigend Putins Eskalationsbereitschaft wirkt, sie hat ihr Gutes: Sie löst Lernkurven in Europa aus. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Im Krieg ist nichts mehr sicher. Krieg ist das Ende aller Gewissheiten. Die Opfer des russischen Angriffs auf die Ukraine verlieren, worauf Verlass in ihrem Alltag war: Häuser und Wohnungen, die Versorgung mit Wasser, Strom und Heizung, Arbeit und Auskommen. Mehr als eine Million Menschen haben die Heimat verloren, Tausende ihr Leben.

In Deutschland machen die Bilder von Leid und Zerstörung vielen bewusst, wie zerbrechlich der Frieden in Europa ist – und damit all die Fundamente, auf denen ihr Wohlergehen und das ihrer Familien ruht. Vieles, was über Jahre als unvorstellbar galt, ist Realität geworden. Auf welche vermeintliche Sicherheit darf man noch bauen?

Die Bürger und ihre Regierung lernen dazu, bewerten neu, ändern Denk- und Verhaltensweisen. Die Ukraine war Terra Incognita. Jetzt bewegen uns die Menschen dort; sie brauchen unsere Solidarität. Wer hat sich früher den Kopf über Energiequellen, Verteidigung, Sanktionen zerbrochen? Nun verfolgen Millionen die Sondersendungen dazu.

Die Lernkurven zeigen steil nach oben. In den ersten 13 Kriegstagen hat die Bundesregierung fundamentale Kurswechsel vollzogen; nun bereitet sie die nächsten vor. Zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) für Verteidigung? Was über Jahre als unnötig galt, gebietet nun die nackte Not.

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Berlin liefert wie viele europäische Verbündete Waffen ins Kriegsgebiet, damit die Ukrainer sich gegen die besser ausgerüsteten russischen Truppen wehren können. Den Ausschluss russischer Banken aus dem Zahlungssystem Swift hatten Bundeskanzler Olaf Scholz und Oppositionsführer Friedrich Merz bei Kriegsbeginn abgelehnt; bald kam die Kehrtwende.

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Folgt nun die nächste: ein Stopp der Energieimporte aus Russland? Für die Lieferung von Gas, Öl und Kohle kassiert Wladimir Putin eine Milliarde Dollar pro Tag. Deutschland und Europa finanzieren ungewollt den Krieg.

[Lesen Sie auch: Moskau droht mit Lieferstopp durch Nord Stream1. Deutschland sollte Russland zuvorkommen. (T+)]

Noch sagen Scholz und sein Wirtschaftsminister Robert Habeck, ein Energieembargo könne Deutschland nicht durchhalten. Die ausfallenden Mengen ließen sich nicht von heute auf morgen ersetzen. Man riskiere Stilllegungen in der deutschen Industrie und sozialen Unfrieden durch noch steiler steigende Preise für Tanken, Heizung und Strom.

Aus dem Nein zum Importstopp wird eine Zeitfrage

Ein kategorisches Nein ist das aber nicht mehr. Es wird nun zu einer Zeitfrage, wann Deutschland und Europa die Importe drastisch reduzieren und am Ende komplett stoppen. US-Präsident Joe Biden kündigt den Stopp russischer Erdöl-Exporte in die USA an. Die EU stellt gerade einen Fahrplan auf, wie sie Zweidrittel der Einfuhren aus Russland bis Jahresende aus anderen Quellen decken kann, ohne größere Verwerfungen zu riskieren.

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Putin nutzt die Ängste in Europa, welche Folgen ein abrupter Stopp hätte, um Druck auszuüben – wie ein Dealer, der dem Drogenabhängigen den kalten Entzug ausmalt. Er droht, die Lieferungen sofort zu beenden, falls Europa ihm Bedingungen stellt. Denn das ist seine Methode: auf Druck mit doppeltem Gegendruck reagieren.

[Lesen Sie auch: Estlands Regierungschefin Kaja Kallas: Ein Diktator versteht nur Stärke. (T+)]

Doch so beängstigend Putins Eskalationsbereitschaft auf den ersten Blick wirkt: Sie hat auch ihr Gutes. Der Schock über seine Rücksichtslosigkeit löst weitere Fragen und Lernkurven in Europa aus: Wie viel Sorgfalt soll man darauf verwenden, Putin bloß keinen Vorwand für weitere Eskalation zu liefern? Und wie viel Hoffnungen darf man auf Verhandlungen mit ihm setzen, wenn er doch alle Verabredungen verlässlich bricht?

Mehr zum Krieg gegen die Ukraine lesen Sie bei Tagesspiegel Plus:

Natürlich bleibt das strikte Gebot, dass der Westen alles vermeiden sollte, was den Krieg in der Ukraine zu einem Krieg zwischen Russland und der Nato ausweiten könnte. Doch parallel verbreitet sich die Einsicht, dass Putin selbst definiert, was er als Kriegseintritt des Westens betrachtet und was nicht.

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Er hat Sanktionen und Waffenlieferungen einen feindlichen Akt genannt. Er wird auch ein Energieembargo so bewerten.

Der Westen kann Putins Denken nicht lenken. Diese Erkenntnis vergrößert die Freiheit – und die Verantwortung –, unabhängig von der Furcht vor seinen Reaktionen zu handeln. Und alles in den Blick zu nehmen, was Russland zu einem Ende des Kriegs zwingen könnte.

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