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Die einen dafür, die anderen dagegen: An der "Ehe für alle" scheiden sich in den USA die Geister bis heute.

© Joe Raedle/Getty Images/AFP

Das große Löschen: Identitätspolitik, zu Ende gedacht

Wolfgang Thierse und andere Kritiker der Identitätspolitik befürchten zu Recht, dass universelle Gleichheitsprinzipien Schaden nehmen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Ist die Metapher vom „Licht am Ende des Tunnels“ rassistisch? Die Frage mag absurd klingen. Doch in der assoziativen Gleichung wird aus Licht=hell=weiß=gut und aus Tunnel=dunkel=schwarz=schlecht. Sprache, so lehrt die Vorurteilsforschung, ist verräterisch.

Insbesondere das Dunkle wird oft als böse und gefährlich dargestellt. Die Liste reicht von „schwarzen Listen" über „schwarze Kassen“ bis zur „schwarzen Magie“.

Selbst Menschen, die des Rassismus unverdächtig sind, wie der Bürgerrechtler Martin Luther King Jr., haben die Hell-dunkel-Metapher gebraucht. In einer Weihnachtspredigt über die Feindesliebe im Jahr 1957 sagte er: „Dunkelheit kann Dunkelheit nicht vertreiben; nur Licht kann das. Hass kann Hass nicht vertreiben; nur Liebe kann das.“

Hier wird das Helle mit der Liebe konnotiert und das Dunkle mit dem Hass. Solche Zuschreibungen dringen ins Unterbewusste ein und setzen sich dort fest.

Gegen die Verengung des Gerechtigkeitsdiskurses

Martin Luther King Jr. war von der Bibel geprägt. Die war lange vor dem modernen Rassismus geschrieben worden. Dennoch können durch deren Gleichnisse rassistische Stereotype transportiert werden. Inzwischen gibt es eine „Bibel in gerechter Sprache“, in der versucht wird, jede Form von Diskriminierung zu vermeiden.

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Doch offenbar wurde das vor allem auf Geschlechterfragen bezogen. Denn auch in der „Bibel in gerechter Sprache“ stehen Sätze wie: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“, oder „Das Volk, das im Finstern wandert, sieht ein großes Licht“.

An Sensibilität für die problematische Hell-dunkel-Metaphorik mangelte es den Autorinnen offenbar.

Dieser kleine Exkurs führt ins Zentrum der von Wolfgang Thierse angestoßenen Debatte über Identitätspolitik. Der ehemalige Bundestagspräsident beklagt die Rigidität, mit der Ansprüche von bestimmten Menschen für bestimmte Menschen gestellt werden, und die Verengung des Gerechtigkeitsdiskurses auf die jeweils eigene Gruppe.

[Mehr zum Thema: Eklat um Identitätspolitik - wer darf Amanda Gormans Gedicht übersetzen? (T+)]

Weder Thierse noch andere Kritiker der identitätspolitischen Orthodoxie bestreiten, dass Menschen aufgrund ihrer Identität – als Frau, „person of colour“, behindert, Jude, Muslim, Mitglied der LGBTQ-Gemeinschaft (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer) – diskriminiert werden. Sie befürchten allerdings zu Recht, dass im Kampf dagegen mit universellen Gleichheitsprinzipien gebrochen wird.

Ein Denkmal von Martin Luther schleifen

Was stellt aus identitätspolitischer Sicht Gerechtigkeit her? Die Hell-dunkel-Metaphorik aus der Bibel zu entfernen? Dass trans Frauen, die biologisch als Mann geboren wurden, beim Rugby der Frauen mitspielen dürfen? Ein Denkmal von Martin Luther zu schleifen, um es durch eines für die etwas unbekanntere Reformatorin Katharine Zell zu ersetzen?

Wer die Identitätskriterien der eigenen Gruppe zum Maßstab nimmt, wird diese Fragen spontan mit Ja beantworten. Dann stünde, um im letzten Beispiel zu bleiben, das Frau-gewesen-Sein von Katharina Zell über der kirchengeschichtlichen Bedeutung von Martin Luther.

Würden solche Entscheidungen aus Geschlechtergerechtigkeitsgründen getroffen, müsste aus Antidiskriminierungsgründen auch die Hell-dunkel-Metaphorik aus der Bibel entfernt werden. Aus universeller Sicht wäre es nämlich höchst ungerecht, das eine zu tun und das andere zu lassen.

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