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Indische Transgendermodels und die australische Drag Queen DK Kitty Glitter bei einer Modenschau in New Delhi im Dezember.

© Prakash SINGH/AFP

Das Gender-Jahr 2017 im Rückblick: Die Geschlechterordnung hat gewackelt - aber hält

Ehe für alle, drittes Geschlecht: 2017 war gut für die Gender-Gerechtigkeit, meint unsere Autorin. Doch viele wollen nicht, dass sich etwas ändert. Ein Essay.

Das Jahr 2017 geht zu Ende – ein revolutionäres Jahr, zumindest im Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit: In Deutschland können lesbische und schwule Paare endlich heiraten und das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass im Geburtenregister neben „männlich“ und „weiblich“ ein drittes Geschlecht eingetragen werden darf. Weltweit brachten zehntausende Frauen und Männer mit dem Hashtag #MeToo die Themen sexuelle Belästigung und Gewalt mit einer vorher nie dagewesenen Wucht in den öffentlichen Diskurs.

Doch 2017 war auch ein ambivalentes Jahr. Ein Jahr, in dem ein amerikanischer Präsident im Amt vereidigt wurde, der über Frauen „Grab them by the pussy“ sagte. Ein Jahr, in dem nicht zuletzt durch #MeToo deutlich wurde, wie sehr Männer ihre Macht und ihre Privilegien nutzen, um Frauen (aber auch andere Männer) einzuschüchtern und kleinzuhalten.

Die tradierte Geschlechterordnung mag 2017 ein bisschen gewackelt haben – aber sie hält. Schon 1949 hinterfragte die Französin Simone de Beauvoir in ihrem Essay „Das andere Geschlecht“, warum es diese Ordnung überhaupt gibt, warum nahezu alles, vor allem die Frauen, den Männern untergeordnet ist. Die biologischen Erklärungen wischte sie beiseite: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Geschlecht ist anerzogen.

Als eine der Ersten trennte Beauvoir das biologische Geschlecht von der sozialen Rolle und begründete damit das heutige Konzept von sex und gender: „Keine biologische, psychische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt.“ Der Mann sieht sich selbst immer als das Absolute, das Subjekt, das Wesentliche und die Frau als das Relative, das Objekt, das Unwesentliche. Er ist das eine, sie das andere. Es herrscht eine eindeutige Rangfolge der Geschlechter.

1949 war Beauvoirs Analyse radikal und unerhört. Fast 70 Jahre später ist sie es in diesem Ausmaß nicht mehr. Zwar lieferte sie die Grundlage für vieles, was heute in Form der Gender Studies und Queer Theory diskutiert wird. Aber sie dachte nicht weit über die Heteronormativität und das binäre Geschlechtermodell hinaus, dekonstruierte Geschlecht als Kategorie nicht völlig.

Wer heute über das Geschlechterverhältnis diskutiert, beruft sich deshalb auf Judith Butler. Diese ist von Beauvoir geprägt, entwickelte ihren Ansatz aber weiter. Wie Beauvoir begreift Butler Geschlecht als gesellschaftliches Produkt. Damit einhergehend kritisiert sie jedoch die Kategorisierung von Geschlecht, die Einteilung in „männlich“ und „weiblich“, durch welche die soziale Zuschreibung von Geschlecht und die damit verbundene Heteronormativität sowohl produziert als auch zementiert wird.

Wenn 2017 eins eindrücklich gezeigt hat, dann, dass es immer noch viele Menschen gibt, die sich mit der geltenden Geschlechterordnung, den damit verbundenen Kategorien und Normen sehr wohl fühlen, die nicht wollen, dass sich etwas ändert. Als der Bundestag für die „Ehe für alle“ stimmte, erschienen in etablierten Medien Meinungsbeiträge, die schwulen und lesbischen Paaren unter anderem die Fähigkeit zur Kindererziehung absprachen, im Internet wütete der homophobe Mob. Als das Bundesverfassungsgericht die Einführung eines „dritten Geschlechts“ im Geburtenregister beschloss, warnten Konservative wie die Publizistin Birgit Kelle, Geschlecht dürfe nicht zu einer „Frage der Eigendefinition“ werden. Als Donald Trump in den USA ankündigte, Kliniken, die Abtreibung anbieten, die staatliche Förderung zu entziehen, war die Empörung auch in Deutschland groß. Kurz darauf kam die Gießener Ärztin Kristina Hänel vor Gericht und wurde zu einer Geldstrafe von 6000 Euro verurteilt, weil sie auf ihrer Webseite über Schwangerschaftsabbrüche in ihrer Praxis informierte.

Beauvoirs These ist nicht selbstverständlich - Biologie wirkt weiter

In diesem Kontext erscheint Simone de Beauvoir gar nicht mehr so altmodisch, zeigt sich, dass ihre These „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ keineswegs selbstverständlich oder gar Mainstream ist. Es geht immer noch und immer wieder um die Biologie. Darum, welche Rolle sie für das Geschlecht sowie das Geschlechterverhältnis spielt. Während biologische Faktoren den einen als Beweis dafür gelten, dass die Geschlechter unterschiedlich und bestimmte Rollenverteilungen sinnvoll oder gar „natürlich“ sind, beharren andere darauf, dass Geschlecht etwas Erlerntes ist. Beauvoir leugnete biologische Unterschiede nicht, betonte aber, diese würden nicht ausreichen „eine Hierarchie der Geschlechter zu bestimmen“.

Für Beauvoir und Butler steht fest, dass es so etwas wie „weibliche“ Werte oder Eigenschaften nicht geben kann - eine Einschätzung, die umstritten ist, auch in feministischen Kreisen: Vor allem in der Diskussion über die Zukunft der Arbeit, Führungskulturen und Quoten gibt es Forderungen, „weibliche“ Eigenschaften und Fähigkeiten aufzuwerten und diese als Ergänzung oder gar Alternative zum „männlich“ geprägten System zu begreifen. Es bleibt also kompliziert.

Zumindest eins steht fest: Statt der von konservativer Seite befürchteten vollständigen Auflösung der Geschlechter und der damit verbundenen Rollen und Ordnung lässt sich eher das Gegenteil beobachten. Studien zeigen, dass die traditionellen Geschlechterrollen wieder beliebter werden, vor allem in Paarbeziehungen. In Berlin – und auch in anderen Städten – nehmen die Gewalttaten gegen Homosexuelle und Transgender zu. Viele Menschen haben den Eindruck, dass es jetzt auch mal reicht mit dieser „Gleichmacherei“, das zeigen die Proteste gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, gegen die Karlsruher Entscheidung, das zeigt der Unwillen, die im Zuge der MeToo-Debatte geäußerten Anschuldigungen gegen Männer ernst zu nehmen. Die traditionelle Geschlechterordnung, sie hält. Und zwar auch deshalb, weil sie für Stabilität sorgt. Mit ihr sind ganz klare Codes und Verhaltensweisen verbunden, die Orientierung schaffen. Was passiert, wenn es diese Orientierung nicht mehr gibt?

Die Angst vor der (Un-)Ordnung nach der Geschlechterordnung

Es existiert eine reale Angst vor dem „danach“, die Simone de Beauvoir – zum Beispiel in ihrer Analyse weiblicher Komplizenschaft – erkannte. In den vergangenen 70 Jahren hat sich viel getan, der Wandel hat längst begonnen. Ein Wandel, für den Beauvoir eine wichtige Rolle spielte, indem sie entscheidende Analysen zur Geschlechterordnung vorlegte, aus denen viele der fundamentalen Konzepte von heute hervorgingen. Durch die Trennung des biologischen Geschlechts von der sozialen Rolle sowie die Darstellung der binären Geschlechterordnung machte sie vieles erst sichtbar und dadurch diskursfähig und verhandelbar.

Schon 1949 merkte sie an, dass „keine scharfe biologische Trennung zwischen den beiden Geschlechtern“ bestehe und erwähnte die Existenz von Intersexualität, um deutlich zu machen, wie zufällig und willkürlich die Geschlechterdifferenzierung und die damit verbundene Geschlechterhierarchie ist. Die Karlsruher Entscheidung hätte Beauvoir deswegen gefallen, schließlich ist für sie „die Tatsache, ein Mensch zu sein, (…) unendlich viel wichtiger als alle Einzelheiten, die die Menschen unterscheiden“.

Julia Korbik ist Journalistin und Autorin. Gerade erschien von ihr „Oh, Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten“ (Rowohlt).

Julia Korbik

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