zum Hauptinhalt
In Berlin lassen sich Menschen auf das Coronavirus testen

© Annegret Hilse/REUTERS

Das Coronavirus in der „geschlossenen Gesellschaft“: Aber wie lang wird die Erinnerung an unsere eigene Seuche anhalten?

Von Corona zur Kontaktreduzierung gezwungen, stellt sich die Zugehörigkeitsfrage neu. Über den Heimatbegriff in globalen Pandemiezeiten. Ein Gastbeitrag.

- Ivan Krastev ist Vorsitzender des Zentrums für Liberale Strategien in Sofia und Permanent Fellow am Zentrum für Humanwissenschaften in Wien. Sein jüngstes Buch heißt „Is It Tomorrow Yet? Paradoxes of the Pandemic“. Der Text wurde aus dem Englischen von Harald Eckhoff. Copyright: Project Syndicate, 2020. www.project-syndicate.org

Das erste, was die Seuche in unsere Stadt brachte, war das Exil. So bemerkt der Erzähler in „Die Pest“ von Albert Camus. In diesen Tagen können wir gut nachvollziehen, was er meinte. Eine Gesellschaft in Quarantäne ist buchstäblich eine "geschlossene Gesellschaft", in der die Menschen mit wenigen Ausnahmen ihr Leben zum Stillstand bringen. Sind sie in ihren Wohnstätten isoliert und von Angst, Langeweile und Paranoia geplagt, besteht eine der wenigen übrig gebliebenen Aktivitäten in der Diskussion über das Virus und darüber, wie es die Welt verändern könnte.

In dieser zukünftigen Welt verfolgen viele Regierungen (wohlmeinende und andere) genau, wohin wir gehen und wen wir treffen - mit der Absicht, uns vor unserer eigenen Rücksichtslosigkeit und derjenigen unserer Mitbürger zu schützen. Kontakt zu anderen Menschen wird zu einer Bedrohung unserer Existenz. In vielen Ländern können unerlaubte Spaziergänge im Park mit Geldstrafen oder gar Gefängnis geahndet werden, und nicht genehmigte physische Kontakte sind gleichbedeutend mit einer Art gesellschaftlichen Verrats.

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev arbeitet in Wien.
Der bulgarische Politologe Ivan Krastev arbeitet in Wien.

© MARKUS SCHWARZE, promo

Wie Camus beobachtete, zerstört eine Seuche die "Einzigartigkeit des Lebens eines jeden Menschen", da sie die Bewusstheit seiner Verletzlichkeit verstärkt - und der Machtlosigkeit, seine Zukunft planen zu können. Es ist, als ob nebenan der Tod Einzug gehalten hat. Nach einer Epidemie können alle Lebenden den Titel des "Überlebenden" für sich beanspruchen.

Aber wie lang wird die Erinnerung an unsere eigene Seuche anhalten? Könnte es sein, dass wir sie in nur wenigen Jahren als eine Art Massenhalluzination wahrnehmen, die von einer "durch überschüssige Zeit kompensierte Knappheit von Raum" ausgelöst wurde, wie der Dichter Joseph Brodsky einst die Existenz eines Gefangenen beschrieb?

In ihrem wunderbaren Buch „Pale Rider“ zeigt die Wissenschaftsautorin Laura Spinney, dass die Pandemie der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920 das tragischste Ereignis des 20. Jahrhunderts war – zumindest hinsichtlich des Verlustes an Menschenleben durch ein einziges Ereignis. Die Anzahl ihrer Opfer übertraf diejenige des Ersten und auch des Zweiten Weltkriegs, und vielleicht lag sie sogar höher als bei beiden zusammen. Aber, wie Spinney bemerkt, „wenn man fragt, was die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts war, nennt fast niemand die Spanische Grippe“.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Noch mehr überrascht es, dass sogar die Historiker diese Tragödie vergessen zu haben scheinen. 2017 waren im WorldCat, dem weltgrößten Bibliothekskatalog, etwa 80 000 Bücher (in mehr als 40 Sprachen) über den Ersten Weltkrieg verzeichnet, aber nur 400 über die Spanische Grippe (in fünf Sprachen). Wie kann es sein, dass über eine Epidemie, die mindestens fünfmal so viele Menschen getötet hat wie der Erste Weltkrieg, 200 mal weniger Bücher geschrieben wurden?

Eine Pandemie ist kein Gut-und-Böse-Story

Warum erinnern wir uns an Kriege und Revolutionen, aber vergessen die Pandemien, die unsere Wirtschaft, Politik und Gesellschaften nicht weniger grundlegend beeinflussen?

Spinney antwortet darauf, dass es schwierig ist, eine Pandemie in eine spannende Geschichte zwischen Gut und Böse zu verwandeln. Ohne eine literarische Handlung oder eine übergeordnete Moral sind Seuchen wie Netflix-Serien, in denen das Ende einer Staffel lediglich als Unterbrechung bis zum Beginn der nächsten dient. Die pandemische Erfahrung ist eine, in der sich alles verändert, aber nichts passiert.

In meiner Erinnerung werden verfallenen Tickets bleiben und oft genutzte Masken

Wir werden aufgefordert, die menschliche Zivilisation zu retten, indem wir zu Hause bleiben und uns die Hände waschen. Wie in einem modernistischen Roman spielt sich die gesamte Handlung im Geist des Erzählers ab. In meiner eigenen Bilanz über die Covid-19-Ära werden die einzigen erinnernswerten physischen Objekte nicht genutzte Flugtickets sowie immer und immer wieder verwendete Gesichtsmasken sein.

Und trotzdem erkennt man in dem Moment, in dem man auf die Straße geht, wie viel sich verändert hat: Nicht nur einige meiner Lieblingscafés in Wien und Sofia mussten schließen, sondern auch mein bevorzugter Buchladen in Washington DC. Wie eine Neutronenbombe zerstört Covid-19 unseren Lebensstil, ohne dabei unsere materielle Welt zu beschädigen. Die meiste Zeit des Jahres 2020 zählten Flughäfen mit zu den traurigsten Orten der Erde – leer, still, und mit nur wenigen Passagieren, die wie Geister durch die Terminals huschten.

[Mehr aus der Hauptstadt. Mehr aus der Region. Mehr zu Politik und Gesellschaft. Und mehr Nützliches für Sie. Das gibt's nun mit Tagesspiegel Plus: Jetzt 30 Tage kostenlos testen.]

Die zunehmende Bewegungsfreiheit der vergangenen drei Jahrzehnte – die Leichtigkeit, mit der sich Menschen unterschiedlicher sozialer Klassen mischen konnten – ist zu einem mächtigen Symbol der Globalisierung geworden. Jetzt ist diese Freiheit Geschichte (oder zumindest dauerhaft eingeschränkt).Unterdessen haben all die öffentlichen Botschaften, mit denen die Menschen aufgefordert werden, zu Hause zu bleiben, eine metaphysische Reflexion ausgelöst: Zu Hause ist dort, wo man sein will, wenn man einer schlimmen Gefahr ausgesetzt ist. Als meine Familie und ich erkannten, dass wir vor einer langen Periode sozialer Distanzierung standen, waren wir von unserer Entscheidung, nach Bulgarien zurückzukehren, selbst überrascht.

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev packte seine Koffer und zog aus Wien zurück nach Sofia.
Der bulgarische Politologe Ivan Krastev packte seine Koffer und zog aus Wien zurück nach Sofia.

© Freepik

Diese Entscheidung war nicht gerade rational. Zehn Jahre lang hatten wir in Wien gelebt und gearbeitet. Wir lieben diese Stadt, und das österreichische Gesundheitssystem ist viel verlässlicher als das bulgarische. Was uns nach Bulgarien zurückbrachte, war die Überzeugung, dass wir „zu Hause bleiben“ sollten. Zu Hause bedeutet für uns Bulgarien. In der Zeit der Krise wollten wir näher bei den Menschen und Orten sein, die wir schon unser ganzes Leben lang kennen.

Wir finden Trost in Muttersprachen

Und damit waren wir nicht allein: 200 000 weitere Bulgaren, die im Ausland leben, taten dasselbe. Ebenso wie viele Menschen in ihren Heimatländern Schutz suchten, fanden sie auch Trost in ihren Muttersprachen. In Momenten großer Gefahr sprechen wir fast unbewusst die Sprache, mit der wir aufgewachsen sind. Während meiner eigenen Kindheit in Bulgarien lernte ich eine wertvolle Lektion, indem ich mir russische Filme über den Zweiten Weltkrieg anschaute: Einer der gefährlichsten Momente für sowjetische Spioninnen in Hitlers Reich war die Geburt ihres Kindes, da sie dabei unweigerlich auf Russisch schrien. Zu Hause bleiben bedeutet, in der Muttersprache zu bleiben und sicher zu bleiben.

Kosmopolitismus als optische Täuschung

Es ist eine der größten optischen Täuschungen der Globalisierung des 21. Jahrhunderts, dass nur mobile Jet-Set-Menschen wirklich kosmopolitisch sind, und dass nur jene, die sich an mehreren Orten zu Hause fühlen, eine universale Perspektive beibehalten können. Immerhin hat Immanuel Kant, dieser klassische Kosmopolit, seinen Heimatort Königsberg, der selbst zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Reichen angehörte, niemals verlassen. Kant verkörperte dasselbe Paradox wie die Covid-19-Pandemie, die zu einer globaleren Welt führte, obwohl sie die Nationalstaaten gegen die Globalisierung abgeschottet hat.

[Behalten Sie den Überblick: Corona in Ihrem Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihren Bezirk. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de]

Beispielsweise hat sich durch „Selbstisolierung“ und „soziale Distanzierung“ der europäische Geist geöffnet. Dadurch, dass wir die Grenzen zwischen EU-Mitgliedstaaten schlossen und Menschen in ihren Wohnungen einschlossen, wurden wir kosmopolitischer als jemals zuvor. Für jene, die Zugang zu Kommunikationstechnologien haben, hat die Pandemie nicht zur Deglobalisierung, sondern zur Delokalisierung geführt.

Nachbarn und Freunde im Ausland - alle sind plötzlich gleich weit weg

Unsere geografischen Nachbarn sind uns im Prinzip nicht mehr näher als unsere Freunde und Kollegen im Ausland, und wir fühlen uns mit den TV-Kommentatoren enger verbunden als mit den Menschen in unserer Straße. Zum vielleicht ersten Mal in der Geschichte führen die Menschen dieselben Gespräche über dieselben Themen. Wir alle teilen dieselbe Angst. Indem wir zu Hause blieben und zahllose Stunden vor Bildschirmen verbrachten, erkannten wir die Ähnlichkeit zwischen unserer eigenen Erfahrung und der aller anderen. Es könnte ein vorübergehender historischer Moment sein, aber wir können nicht leugnen, dass wir immer besser verstehen, was es bedeutet, in einer einzigen Welt zu leben.

Ivan Krastev

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false