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Seit 2005 sitzt Sigmar Gabriel für die SPD direkt gewählt im Bundestag.

© dpa/ Bernd von Jutrczenka

„Dann soll man besser gehen“: Ex-SPD-Chef Gabriel hört auf

Sigmar Gabriel gibt Anfang November sein Bundestagsmandat ab. Eines der größten politischen Talente der SPD will sich auf andere Tätigkeiten konzentrieren.

Es sind zwei Seiten, die einen Abgang in Raten vollenden. Er gebe freimütig zu, dass er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Außenministers zunehmend den Eindruck gewonnen habe, „dass die SPD auf Bundesebene meiner Möglichkeiten und Fähigkeiten nicht mehr bedarf“, schreibt Sigmar Gabriel an die Genossen seines Wahlkreises in Wolfenbüttel, Salzgitter und Goslar. „Und wenn man nicht mehr recht gebraucht wird, dann soll man besser gehen.“ Nochmal ein typischer Gabriel.

Ein kleiner Seitenhieb auf seine Nachfolger, von denen Andrea Nahles auch schon wieder weg ist, während Vizekanzler Olaf Scholz sich anschickt, mit Klara Geywitz die Parteiführung zu übernehmen., Viele Genossen von Format, die das Amt ausfüllen könnten, hat die SPD nicht mehr.

Anfang November wird er sein Bundestagsmandat niederlegen. Das Ende einer Ära, eines der größten politischen Talente der SPD konzentriert sich auf andere Tätigkeiten. Lehraufträge an den Universitäten Bonn und Harvard, die Arbeit als Publizist (als Autor der Holtzbrinck-Gruppe schreibt er auch für den Tagesspiegel) und das Ehrenamt als Vorsitzender der Atlantik-Brücke beanspruchten ihn zunehmend. Er war vielleicht zu oft Solist, schnell im Denken, instinktiv. Aber auch mitunter Rabauke.

Mit ihm war immer Leben in der Bude SPD, auch wenn er manchmal über das Ziel hinausschoss und Vorstöße selbst seine Sprecher kalt erwischten, da er gerne auch die Pressearbeit selbst übernahm. Zuletzt verscherzte er es sich mit vielen, weil er mit als unsolidarisch empfundenen Querschüssen etwa auf Nahles auffiel, was zu ihrer Demontage beitrug. Ministerpräsident in Niedersachsen, Umweltminister, Wirtschaftsminister, dann Außenminister, dazu Vizekanzler. Er war von 2009 bis 2017 der am längsten amtierende Vorsitzende seit Willy Brandt, eine große Leistung.

„Sigmar Gabriel ist ein demokratischer Populist“

Und von den Ergebnissen stand die SPD besser als heute da. Einer seiner größten Coups: Er machte gegen den anfänglichen Willen der Union Frank-Walter Steinmeier zum Bundespräsidenten – der hat gerade Halbzeit, schon wächst der Chor jener, die ihm eine zweite Amtszeit nahelegen. Und Gabriel wurde zum Beispiel sehr gelobt, als nach seiner Vermittlung der Journalist Deniz Yücel in der Türkei aus dem Gefängnis entlassen wurde. „Sigmar Gabriel ist ein demokratischer Populist, und das ist auch gut so“, sagte Altkanzler Gerhard Schröder mal über ihn. Er könne aufrütteln „und will aufrütteln.“ Ihn hat geprägt, dass sein Vater ein Nazi war, das erfuhr er erst mit 18. Er denkt viel darüber nach, wie der Herausforderung des Rechtspopulismus zu begegnen sei.

Brillanter Redner, Stimmungen aufsaugend, aber halt, oft beschrieben: unstet. Er zieht wie Lucky Luke manchmal schneller als sein Schatten, brüskierte Mitarbeiter und Vorstandsmitglieder – die Generalsekretärinnen von Andrea Nahles bis Yasmin Fahimi können da ein Lied von singen. Legendär die Episode aus dem Buch «Sigmar Gabriel: Patron und Provokateur» von Daniel Sturm und Christoph Hickmann: Scholz besuchte vor ein paar Jahren die Documenta in Kassel. Die SPD arbeitete gerade unter Scholz‘ Führung an einem neuen Rentenkonzept. Scholz schlenderte mit seiner Frau durch die Halle seines Hotels, als er Saal ein Schild «SPD-Parteivorstand» vor einem Saal entdeckte.

Nanu, dem gehörte Scholz an, weshalb er neugierig war, wen er hier antreffen würde. Er klopfte, öffnete die Tür und sah Gabriel da sitzen. Der leitete dort die Geheimsitzung einer Fachgruppe, die ein alternatives SPD-Rentenkonzept erarbeiten sollte, weil er Scholz nicht traute. Der wünschte gute Verrichtung.

„Wo es stinkt und brodelt“

Gabriel war auch Grenzgänger. Sein Besuch einer Veranstaltung mit Pegida-Sympathisanten löste intern viel Wirbel aus. Erst pappte er sich im Bundestag einen “Refugees Welcome“-Button im Bundestag an, dann warnte er vor Überforderung. Insgesamt schaffte auch er es nicht, ein großes neues Zukunftskonzept für die SPD zu entwickeln, befriedete aber den lange schwelenden Streit um die Renten- und Freihandelspolitik. Dahin gehen „Wo es stinkt und brodelt“, hatte er schon in seiner Bewerbungsrede als SPD-Chef als Losung ausgegeben. Doch vielleicht war der schwerste Fehler, nicht selbst als Kanzlerkandidat 2017 anzutreten.

Alles danach ging nicht auf. Er überließ Martin Schulz Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur, in einer recht einsamen Entscheidung. Dann war, als es nach dem Jamaika-Scheitern doch noch einmal zur großen Koalition kam, kein Platz mehr für ihn, Schulz wollte selbst Außenminister werden, scheiterte aber auch, weil er mal ausgeschlossen hatte, in ein Kabinett unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) einzutreten. Gabriel war erbost, dass sein Wegbegleiter ihm das Außenministerium nahm („der Mann mit den Haaren im Gesicht“, zitierte er seine eigene Tochter).

Man hat sich ausgesprochen, der Groll über die Anderen schweißte wieder zusammen. Sie genossen es, die Köpfe zusammenzustecken, gleich wurde spekuliert und mancher unruhig. Außenminister wurde dann ironischerweise Heiko Maas, der Wahlverlierer aus dem Saarland, der von Gabriel 2013 eine neue Chance bekam und Justizminister wurde. Beide haben sich heute nicht mehr viel zu sagen.

Gabriel mühte sich gar nicht um Harmonie

Lange gab es eine Sehnsucht nach einem Comeback, doch Gabriel bemühte sich gar nicht mehr um Harmonie. Was er jenseits des Scheinwerferlichts machte und weitermachen will: Er ist an der Basis unterwegs, hört zu. Das kann er, er kann mit dem Automechaniker reden wie mit dem russischen Außenminister. „Das ist Schritt, der mir nach 30 Jahren Parlamentszugehörigkeit für unsere Region wahrlich nicht leicht fällt“, schreibt Gabriel. „Insgesamt acht Mal haben mich seit 1990 die Bürgerinnen und Bürger für die SPD direkt in ein Parlament gewählt. Zuerst in den Niedersächsischen Landtag und später in den Bundestag.“ Er sei für dieses Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger hier in unserer Heimat sehr, sehr dankbar.

„Nicht ein Ministeramt und nicht einmal das Amt des Bundespräsidenten ist das höchste Amt einer Demokratie, sondern das Amt eines frei und direkt gewählten Abgeordneten.“ Doch alles, auch die Arbeit als Abgeordneter, habe einen Anfang und ein Ende. Normalerweise ist dieses Ende mit der Neuwahl des Parlaments verbunden. „Wenn ich jetzt nach etwas mehr als der Hälfte der Legislaturperiode schon ausscheide, hat das sehr persönliche Gründe.

Der wichtigste ist mein Gefühl, dass ich mit 60 Jahren jetzt noch einmal die Chance habe, etwas Neues anzufangen.“ Er betont, „alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in meinen Büros sind hinreichend abgesichert oder haben bereits eine Anschlussbeschäftigung gefunden, so dass auch hier keine Sorgen bestehen.“ Eines darf gewiss sein: er wird andere Bühnen bespielen – aber nicht leiser.

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