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Demonstrant bei Coronaprotesten in Kassel.

© REUTERS/Thilo Schmuelgen

Coronaleugner sorgen für Chaos in Kassel: Der Staat muss gegen die „Querdenker“ endlich Härte zeigen

Die Szene der Coronaleugner agiert immer dreister. Die Polizei war nicht nur beim Auflauf in Kassel überfordert. Wie lange noch? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Frank Jansen

Das darf nicht wahr sein. In Kassel hat sich der Staat am Sonnabend wieder einmal von aggressiven Coronaleugnern überrumpeln lassen. Die Polizei war dem Ansturm von 20.000 Querdenkern nicht gewachsen, die Masse ignorierte Maskenpflicht und Abstandsregeln, Journalisten und Gegendemonstranten wurden gewaltsam attackiert, der Staat als Diktatur diffamiert.

Wie vergangene Woche in Dresden, wie in weiteren Städten seit Monaten schon.

Und obwohl der Schock von Berlin jetzt bereits mehr als ein halbes Jahr her ist, als Coronaleugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten versuchten, das Reichstagsgebäude zu stürmen, wirkt der Rechtsstaat immer noch überfordert.

Keine überregionale Polizei-Strategie, offenbar kaum nachrichtendienstliche Aufklärung vor den Demonstrationen, keine systematische Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Wie lange noch?

"Grundsätzliche Staatsfeindlichkeit"

Bislang hat nur der Verfassungsschutz in Baden-Württemberg das Querdenker-Spektrum als Beobachtungsobjekt eingestuft. Das war im Dezember. Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU) warnte, zusehends weiche der legitime Protest gegen staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie "einer grundsätzlichen Staats- und Politikfeindlichkeit in bedenklichem Ausmaß".

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Dieser Bewertung würden wahrscheinlich alle Amtskollegen Strobls in der Republik zustimmen. Nach den Ausschreitungen in Dresden und Kassel wohl mehr denn je. Aber warum passiert so wenig? Worauf wartet der Rechtsstaat?

Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Kassel.
Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Kassel.

© REUTERS/Thilo Schmuelgen

Offensichtlich wiederholt sich der Fehler, den die Sicherheitsbehörden bei den Reichsbürgern gemacht haben. Die Szene wurde erst 2016 bundesweit vom Verfassungsschutz in den Blick genommen. Da waren bereits die ersten Schüsse gefallen.

In Bayern hatte ein Reichsbürger sogar einen Polizisten erschossen, als ein SEK das Waffenarsenal des Fanatikers ausheben wollte. Als das Bundesamt für Verfassungsschutz dann endlich systematisch mit den Landesbehörden die Reichsbürger unter die Lupe nahm, wurde klar, dass die Bewegung größer und noch gefährlicher ist, als zuvor schon zu vermuten war.

[Aktuell bei Tagesspiegel-Plus: Kurt Krömer spricht erstmals über seine Depressionen – „Ich habe keinen Bock auf Versteckspiel“ (T+)]

Plötzlich war von 10.000 Reichsbürgern die Rede. Inzwischen sind es doppelt so viele. Immerhin ist es gelungen, ihre Strukturen zu erkennen und reihenweise Waffen sicherzustellen.

Enge Vernetzung mit Extremisten

Reichsbürger und Rechtsextremisten sind, wie sich in den vergangenen Monaten zeigt, in Teilen eng vernetzt mit den Querdenkern. Deren Wortführer Michael Ballweg traf sich im November zu strategischen Absprachen mit einem der Ober-Reichsbürger, Peter Fitzek, selbsternannter König von Deutschland.

So häufen sich von Monat zu Monat die Gründe, die Szene der Coronaleugner in ganz Deutschland zu durchleuchten. In Sachsen scheinen sich die Querdenker der rassistischen Pegida-Bewegung anzunähern.

[Mehr zum Thema: Streit über schwarz-weiß-rote Fahnen - warum die Regierung Reichs- und Reichskriegsflaggen nicht verbietet (T+)]

Die Coronaleugner paktieren aber nicht nur mit Extremisten, sie radikalisieren sich auch selbst. Verfassungsschützer sprechen schon länger von einem Phänomen "sui generis".

Kein Abstand, keine Maske. In Kassel hat die Querdenker-Bewegung wieder einmal den Staat überrumpelt. Die Polizei war der aggressiven Masse nicht gewachsen
Kein Abstand, keine Maske. In Kassel hat die Querdenker-Bewegung wieder einmal den Staat überrumpelt. Die Polizei war der aggressiven Masse nicht gewachsen

© imago images/Leonhard Simon

Aber wann sich die Innenminister auf eine gemeinsame Strategie zu Abwehr und Prävention verständigen, bleibt offen. Die nächste Tagung der Innenministerkonferenz findet im Juni statt. In den drei Monaten kann noch viel passieren.

Der Verlust an Vertrauen in den Staat droht zu wachsen

Der Rechtsstaat läuft Gefahr, noch mehr Vertrauen zu verlieren als schon durch die quälend langsame Impfkampagne. Das Risiko einer um sich greifenden Politik- und Systemverdrossenheit auch angesichts von Schwächen bei der inneren Sicherheit wächst.

Auch davon profitieren Coronaleugner, Verschwörungstheoretiker, Extremisten. Der Staat muss endlich Härte zeigen. Die Querdenker-Szene sollte vom Verfassungsschutz bundesweit zum Verdachtsfall erklärt und nachrichtendienstlich bearbeitet werden.

[Lesen Sie auch: Neue Beschlussvorlage für den Corona-Gipfel – Ausgangssperre auf der Kippe, Länder pochen auf Osterbesuche]

Was machen die führenden Akteure, wie breitet sich das Spektrum überregional und in einzelnen Regionen aus, welche Strukturen werden aufgebaut, wo sind Reichsbürger und Rechtsextremisten eingebunden, wie läuft die Mobilisierung für die großen Demonstrationen, was spielt sich in den sozialen Netzwerken ab, welche Kontakte gibt es zu Coronaleugnern im Ausland, speziell in Österreich und weiteren Nachbarländern der Bundesrepublik?

Wie eng sind Coronaleugner mit dem verschwörungstheoretischen QAnon-Netzwerk und weiteren Akteuren des blutigen Sturms auf das Kapitol in Washington verbunden?

Das sind alles Fragen, die deutlich intensiver bearbeitet werden müssen. Auch um zu verhindern, dass die aggressive Querdenker-Bewegung nach dem schaurigen Vorbild von Rechts- und Linksextremisten in Terrorismus mündet.

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