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In Belgrad gelten strengste Ausgangsbeschränkungen. Personen über 65 Jahren dürfen das Haus gar nicht mehr verlassen.

© AFP

Coronakrise auf dem Balkan: „Wir leben nicht mehr in einer Demokratie, wie es sie 2012 gab“

Serbiens Regierung hat eine der strengsten Ausgangsbeschränkungen in Europa durchgesetzt. Oppositionsführer Tadić warnt: Die Situation sei ein Paradies für autoritäre Regime.

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Herr Tadic, wie empfinden Sie derzeit die Situation in Serbien?
Es ist grausam. Unter dieser Spannung ist es schlimm für jeden in diesem Land. Das Problem ist, dass die Regierung beziehungsweise das Expertenteam regelmäßig immer striktere Beschränkungen verhängt. Und wir wissen nicht, was die finale Lösung sein wird. Womöglich eine totale Ausgangssperre für zwei Wochen.

Die Maßnahmen in Serbien haben sich drastisch zugespitzt. Menschen über 65 Jahre dürfen ihre Wohnung gar nicht mehr verlassen und für den Rest gilt eine Polizeistunde zwischen 17 und 5 Uhr. Wie kam es dazu? 
Die Regierung und die Mediziner, die für das Krisenmanagement verantwortlich sind, haben zuerst unangebracht reagiert. Sie haben über die Krise gescherzt und gesagt, dass dies „das lächerlichste Virus der Geschichte“ ist und, dass das Virus keine größere Auswirkung auf Menschen hat als die normale Grippe. Man hat sogar noch Witze gemacht, dass die Menschen weiter in Mailand shoppen gehen sollten. Aber sieben Tage später haben sie ihre Strategie geändert und angefangen, Panik zu bekommen, als die Pandemie in Europa voll ausgebrochen ist. Dann haben die strikten Maßnahmen begonnen. 

Das Problem ist allerdings, dass durch die Witze und die ersten Auftritte einige Menschen ihnen nicht vertrauen und den Maßnahmen nicht folgen. Ich habe heute beispielsweise auf der Straße viele Menschen gesehen, die vor geschlossenen Cafés gemeinsam Kaffee getrunken haben. Und jetzt wirft die Regierung den Menschen auch noch vor, sich nicht strikt an ihre Anweisungen zu halten. Die Situation ist absurd.

Boris Tadic bei einem Besuch im Bundeskanzleramt im Jahr 2007. 
Boris Tadic bei einem Besuch im Bundeskanzleramt im Jahr 2007. 

© Foto: Marcus Brandt/ddp

Sind diese strengeren Regeln nicht in Bezug auf das Gesundheitssystem notwendig?
Das serbische Gesundheitssystem funktioniert besser als das in manchen EU-Staaten. Das ist für manche überraschend. Natürlich müssen wir auch Distanz halten und etwa Masken verwenden. Aber gleichzeitig weiß ich nicht, ob die Maßnahmen, die Vucic implementieren will, nur das Ziel haben, Menschen und das Gesundheitssystem zu schützen oder ob er sie politisch nutzen will. Das ist meine Sorge. 

Welche Auswirkungen die Abwanderung von zahlreichen medizinischen Fachkräften auf das serbische Gesundheitssystem hat, hat Thomas Roser aufgeschrieben.

Sie sorgen sich also, dass Präsident Vucic den Ausnahmezustand nutzt, um seinen autoritären Kurs zu verschärfen?
Ich habe Angst, dass das Schritt für Schritt möglich ist und wir die EU-Atmosphäre verlassen. Wir werden uns wohl an mehr Einschränkungen und an eine neue Atmosphäre gewöhnen müssen. Vucic nutzt die Gunst der Stunde, um die Demokratie weiter abzuschaffen, wie er es schon acht Jahre lang zuvor getan hat. Die Coronakrise ist dafür eine willkommene Gelegenheit.

Ähnliches passiert auch in Ungarn...
Diese Situation ist ein Paradies für autoritäre Regime, ein wirkliches Paradies. Natürlich befürchten sie, dass viele Menschen sterben und dass sie als nicht erfolgreiche Politiker aus der Krise hervorgehen. Aber zugleich ist es eine wundervolle Zeit für sie, um etwa die normale Kommunikation und Debatte über Probleme im Land zu blockieren. In Serbien wurde etwa eine Journalistin festgenommen, die über die problematischen Zustände in einem Krankenhaus in Novi Sad berichtet hat. Sie wurde nach Protesten von Intellektuellen und Journalisten freigelassen. Aber die Intention der Regierung ist klar: Wer über Probleme berichtet, kann sanktioniert werden.

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Inwiefern berichten die serbischen Medien über die Situation?
Wir haben heute zwei, drei wirklich unabhängige Medien aber kein Broadcasting mit einer nationalen Frequenz. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit sich die Leute über die tatsächliche aktuelle Situation informieren können. Das ist aber indirekt auch ein Ergebnis der Europäischen Union.

Viele EU-Staatsoberhäupter haben Vucic unterstützt, da er versprochen hat, das Kosovo-Problem zu lösen. Er hat versprochen, dass er als ehemaliger Nationalist, wie er sich selbst bezeichnet, eher in der Lage ist, in Bezug auf den Kosovo abzuliefern. Und viele EU-Politiker haben das als mutig erachtet. Er mache das, was ehemalige demokratische Staatschefs nicht machen wollten. Aber zur gleichen Zeit hat Vucic die Umstände genutzt, um die Pressefreiheit und demokratische Standards zu zerstören. Wir leben nicht mehr in einer Demokratie wie es sie bis 2012 noch gab.

Chinesische Ärzte inspizieren eine provisorische Aufnahmeeinrichtung im Belgrader Stadion.
Chinesische Ärzte inspizieren eine provisorische Aufnahmeeinrichtung im Belgrader Stadion.

© Oliver Bunic / AFP

Nun zeigt sich Vucic enttäuscht von der EU in der Coronakrise und sagt, dass etwas wie eine "europäische Solidarität" nicht existiert. Der „Bruder“ Serbiens sei China. Stimmen Sie ihm hier zu?
Ich verstehe als ehemaliger Präsident, dass man in Krisen Verantwortung hat, Lösungen zu finden. Man hat nicht viele Optionen zur gleichen Zeit. Die EU-Staaten müssen sich derzeit mit einem echten Problem auseinandersetzen und sie haben keinen großen Fokus für Solidarität mit Staaten, die keine Mitgliedsstaaten sind.

Aber zur gleichen Zeit ist Vucic sehr enttäuscht und zeigt sich als wütender Mann, da er von der EU nicht ausreichend Schutzausrüstung erhält. Er setzt deshalb auf die chinesische Unterstützung. Die Art des Theaters ist komplett unnütz. Vucics übertriebener Ausdruck der Dankbarkeit und der gleichzeitigen Untergrabung der EU wird von den europäischen Staats- und Regierungschefs sicherlich nicht begrüßt und in diplomatischen Kreisen zur Kenntnis genommen.

Hintergründe zum Coronavirus:

Sie sind nun seit acht Jahren nicht mehr Präsident. Was glauben Sie, mit diesem zeitlichen Abstand, was war die wichtigste politische Entscheidung, die Sie getroffen haben?
Ich habe die Politik pro-europäisch gehalten. Dafür bin ich fragwürdige und zerbrechliche Koalitionen eingegangen, um das zu wahren – teilweise sogar mit anti-europäischen Parteien, damit es eine stabile Regierung gab. Schließlich haben wir viele gute Sachen für das Land erreicht.

Wir haben, in Kooperation mit den USA und Großbritannien, das organisierte Verbrechen bekämpft. Diese Strukturen aufzubrechen, gerade in einem ehemaligen Bürgerkriegsland, war alles andere als einfach. Und haben, trotz aller Bemühungen um eine Aufnahme in die Europäische Union, gute Beziehungen zu Russland und China aufgebaut. 

Präsident Vucic gibt den chinesischen Experten den Ellbogen. Zuvor hatte er das Land als „Serbiens Bruder“ bezeichnet.
Präsident Vucic gibt den chinesischen Experten den Ellbogen. Zuvor hatte er das Land als „Serbiens Bruder“ bezeichnet.

© Dimitrije GOLL/AFP

Für den 26. April waren Parlamentswahlen vorgesehen, die nun verschoben worden sind. Bereits zuvor hatte die Opposition, also auch Ihre Partei angekündigt, diese Wahlen zu boykottieren. Warum?
Zurzeit sind keine akzeptablen Bedingungen für einen vernünftigen Wahlkampf oder eine angemessene politische Debatte vorhanden. Seit acht Jahren wird es für oppositionelle Parteien zunehmend schwieriger, am Diskurs teilzunehmen, insbesondere in den Medien sind wir nahezu gar nicht präsent.

Diese Entscheidung, die fast alle Oppositionsparteien gemeinsam getroffen haben, sorgt selbstverständlich für weitere Kontroversen. Aber es war die einzige Möglichkeit, die wir gesehen haben, um in Serbien als auch im Ausland zu signalisieren, dass hier etwas schief läuft. 

Die politische Debatte wird ausgehöhlt und auch die Pressefreiheit wird zunehmend eingeschränkt, da nahezu alle größeren Medienhäuser von der Regierung kontrolliert werden. Mit der Coronakrise tritt das noch offensichtlicher zutage. In nahezu keinem Medium werden die Maßnahmen der Regierung kritisch hinterfragt. Auch im Parlament kommen wir praktisch nicht mehr zu Wort. 

Der Busverkehr in Belgrads Umland wurde fast vollständig eingestellt. Viele müssen zur Arbeit laufen.
Der Busverkehr in Belgrads Umland wurde fast vollständig eingestellt. Viele müssen zur Arbeit laufen.

© Andrej ISAKOVIC / AFP

Die Serbische Fortschrittspartei (SNS), die Partei von Präsident Vucic wurde erst 2008 gegründet. Schon vier Jahre später stellte sie den Präsidenten und regiert inzwischen mit absoluter Mehrheit. Haben Sie Ihren politischen Gegner anfangs unterschätzt?
Nein, ich habe meine Gegner nie unterschätzt. Meine Gegner hatten immer eine breite Unterstützung in der serbischen Bevölkerung. Als Milosevic damals am 5. Oktober 2000 zurückgetreten ist, hat sich in Serbien etwas nahezu Einmaliges ereignet: die Parteien rückten zusammen und es bildeten sich Koalitionen, die es ansonsten niemals gegeben hätte. Auch mit Milosevics ehemaliger Partei. Natürlich auch bedingt durch die Schrecken des Bürgerkrieges. 

Das bedeutet: eigentlich gab es für unsere Ziele - Demokratisierung, die Aufnahme in die europäische Union - nie eine wirkliche Mehrheit in der Parteienlandschaft. Aus diesem Spannungsverhältnis hat sich in Serbien eine starke, konservativ bis rechtsradikale Mehrheit gebildet. Wenn ich ehrlich bin, kann ich Ihnen bis heute nicht wirklich erklären, wie Ich zweimal Präsident werden konnte. 

„Ich kann mir bis heute nicht eklären, wie ich zweimal Präsident werden konnte“

Wie meinen Sie das?
Als ich 2004 zum ersten Mal antrat, hatte ich ehrlicherweise nicht damit gerechnet, gewinnen zu können. Meine politischen Gegner hatten den Umfragen nach immer die Mehrheit inne. Ich konnte mit meinen Wahlkämpfe zweimal eine Art Vorsprung erarbeiten und habe zweimal gewonnen.

Und bin beim dritten Mal mit 70.000 Stimmen Unterschied gescheitert. Denn ehrlicherweise hatten unsere Gegner immer eine breitere Unterstützung in der serbischen Gesellschaft. Ich kann also nicht von mir behaupten, meine Gegner unterschätzt zu haben. 

Wenn man sich fragt, wieso Präsident Vucic aktuell so viel zulauf bekommt, dann muss man wissen, dass er stark auf die Unterstützung von ehemaligen Milosevic-Anhängern bauen kann. Seine Partei hat lange gebraucht, um sich zu einem pro-europäischen Kurs zu bekennen, trotz ihrer offenen rechten bis rechtsradikalen Umtriebe. Daher warne ich auch meine Oppositionskollegen, wachsam zu sein. Pro-europäisch zu sein bedeutet eben nicht, auch zu europäischen Werten zu stehen.

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Nach Ihrer Niederlage 2012 haben Sie Ihre eigene Partei SDS gegründet. Glauben Sie, dass es so einfacher werden wird, die Opposition zu einen?
Aktuell versuche ich, als Ratgeber Einfluss zu nehmen. Wir müssen in der aktuellen Situation andere Wege finden, die Menschen zu erreichen. Vucic ist ein Machtstrategie, ein Machiavellist, der jedes Werkzeug benutzen wird, um seine Macht zu sichern.

Wir brauchen als Opposition mehr Zusammenarbeit, für die ich mich stark einsetze. 2022 finden hier die nächsten Präsidentschaftswahlen statt. Bis dahin müssen wir uns auf einen Kandidaten einigen, der sich gegen Vucic durchsetzen kann. Und ich hoffe sehr, demjenigen mit Rat und Tat beiseite stehen zu können.  

„Die EU-Mitgliedschaft wird niemals erreicht werden“

Sie haben 2009 die Aufnahme in die EU beantragt. Seit März 2012 ist Serbien offiziell EU-Beitrittskandidat, seit 2014 laufen die Verhandlungen. Was denken Sie heute? Wie realistisch ist Serbiens Zukunft in der EU?
Ich befürchte, die EU-Mitgliedschaft wird niemals erreicht werden. Von beiden Seiten kann es sehr nützlich sein, dass dieser Prozess eine niemals endende Story ist. Vucic und andere Autokraten des Westbalkan können sagen, wir versuchen, Mitgliedsstaaten zu werden.

Aber eigentlich wollen sie kein EU-Mitglied werden. In der gleichen Zeit können französische oder deutsche Politiker sagen, dass sie sehr willkommen sind. Aber letztlich wird die EU darunter leiden. Denn wenn die EU auf dem Westbalkan nicht existiert, werden andere globalen Player diesen Platz einnehmen. 

Früher waren es vor allem Russland und die Türkei, heute ist China sehr in der Region präsent. Aber wenn die EU ein Global Player sein will, dann muss sie ihre eigenen Grenzen auf dem Kontinent definieren und strategische Beziehungen aufbauen. Wenn es einen Leerraum gibt, dann wird es unkontrollierte Einflüsse aus anderen Teilen der Welt geben.Und die EU wird dafür einen sehr hohen Preis zahlen, wirtschaftlich aber auch sicherheitspolitisch. 

Für Sie ist die EU kein Global Player?
Nicht mehr. Nicht wie sie es vor 20 Jahren war. Wir werden sehen, was nach der Krise kommt. Die Zeit gerade ist sehr spannend für Intellektuelle, aber sehr gefährlich für Politiker.

Boris Tadić (62) war von 2004 bis 2012 der erste gewählte Präsident Serbiens. Der studierte Sozialpsychologe verfolgte in seinen zwei Amtszeiten einen pro-europäischen Kurs. Nach seiner Abwahl durch den rechtspopulistischen Kandidaten der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) verließ er die Demokratische Partei, deren Vorsitzender er war und gründete daraufhin die sozialdemokratische SDS.

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