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In Polen demonstrierten Tausende Menschen bereits gegen die Pläne der Regierung, die Istanbul-Konvention zu verlassen. (Archivfoto vom 24. Juli).

© Wojtek Radwanski, AFP

Corona und Gewalt gegen Frauen: Inmitten der Schattenepidemie

Der Lockdown hat Gewalt gegen Frauen ins Bewusstsein befördert. Gerade jetzt wollen die Türkei und Polen aus der Istanbul-Konvention aussteigen, die Frauen schützen soll. Ein Essay.

- Annabelle Chapman ist freie Journalistin. Sie schreibt für den „Economist“ über Polen und für „Monocle“.

Wir leben in Zeiten einer globalen Pandemie – Millionen von Menschen weltweit wurden angewiesen, zu Hause zu bleiben. Das ist ein seltsamer Zeitpunkt, um aus einem internationalen Abkommen auszutreten, das darauf abzielt, Menschen vor Gewalt in ihrem Zuhause zu schützen. Genau das aber ziehen in diesem Sommer zwei Länder in Betracht: Polen und die Türkei. Sie wollen sich aus der Istanbul-Konvention zurückziehen, einem europäischen Abkommen, mit dem sich die Unterzeichnerstaaten verpflichten, häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen.

Polen und die Türkei wären die ersten Länder, die aus dem Abkommen wieder austreten. Das mag zunächst als eine extreme Ausnahme erscheinen, als das Vorgehen zweier Regierungen, die eben von Traditionalisten geführt werden. Doch das Vorgehen steht für eine insgesamt besorgniserregende Haltung gegenüber Frauen und ihren Körpern unter rechtspolitischen Kräften in Europa und darüber hinaus.

Für Menschen überall auf der Welt bedeuteten die Lockdowns, dass sie ihre Arbeit, den Haushalt und die Kinderbetreuung plötzlich völlig neu organisieren und bewältigen mussten – und das unter der Bedingung einer zuvor nie gekannten Unsicherheit. Für viele hieß es aber auch, mit einem gewalttätigen Partner oder Familienmitglied eingesperrt zu sein (häusliche Gewalt trifft auch Männer, meist aber Frauen).

Die Gewalt ist weiter verbreitet, als die meisten Menschen denken: 2018 wurde nach Angaben des deutschen Familienministeriums jede Stunde in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner schwer verletzt. Nachdem in vielen Ländern ein Lockdown verhängt worden war, stieg die Zahl der gemeldeten Fälle nach Angaben der Vereinten Nationen stark an. Die UN bezeichneten die häusliche Gewalt als „Schattenpandemie“. Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens führten dazu, dass Frauen nicht mehr Schutz bei Freunden suchen oder Hilfsangebote in Anspruch nehmen konnten.

Die Gewalt ist tödlich: Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet, in Frankreich ist es ähnlich. In der Türkei wurden laut der Frauenrechtsorganisation We Will Stop Femicide Platform 2019 218 Frauen umgebracht. Die Überlebenden sind oft traumatisiert. Mir wurde von Fällen aus dem kommunistischen Polen der Vorwendezeit erzählt, von einem aggressiven Ehemann und einem Vater, die ihre Familien in engen Zwei-Zimmer-Apartments quälten. Die Narben sind bis heute geblieben.

In seinem Buch „Verkörperte Schrecken: Trauma-Spuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann“ schreibt der Psychologe Bessel van der Kolk: „Traumatische Erfahrungen hinterlassen Spuren – im Großen, in unserer Geschichte und unserer Kultur – und zu Hause, in unseren Familien, in denen dunkle Geheimnisse von Generation zu Generation weitergegeben werden.“ Sie „hinterlassen Spuren in unserem Geist, unseren Gefühlen, unserer Fähigkeit zur Freude und zur Intimität, und sogar in unserer Biologie und unserem Immunsystem“.

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Die Istanbul-Konvention sollte häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen bekämpfen. Sie ist von mehr als 30 Staaten in Europa ratifiziert worden, von Albanien bis zur Schweiz. Die Türkei war 2012 das erste Unterzeichnerland. Die Konvention erkennt an, dass es sich bei Gewalt gegen Frauen um „geschlechterspezifische Gewalt“ handelt, also um Gewalt, die Frauen erfahren, weil sie Frauen sind.

Die Konvention zielt darauf ab, Betroffenen zu helfen, indem sich die Unterzeichner verpflichten, umfassende Hilfskonzepte zu entwickeln, die internationale Zusammenarbeit zu fördern sowie Hilfsorganisationen und die Ermittlungsbehörden zu stärken.

Anstoß wird an der Definition von "Geschlecht" genommen

In der Türkei ist es die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan, die den Ausstieg vorantreibt. Im Juli hat der Vorstand der Partei über mögliche Optionen gesprochen – nämlich auf Änderungen am Text hinzuarbeiten oder aber das Abkommen ganz zu verlassen. In Polen kam die Ankündigung im Juli vom Justizminister des Landes, Zbigniew Ziobro, der gleichzeitig einer kleinen, konservativen Partei vorsteht, die ein Bündnis mit der regierenden PiS-Partei eingegangen ist.

Der Hintergrund ist ein gemeinsamer: In beiden Ländern lehnen es sozial konservative Gruppen ab, wie das Abkommen „Geschlecht“ definiert, nämlich als „die gesellschaftlich geprägten Rollen, Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Merkmale, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Männer angemessen ansieht“. In der Türkei haben konservative Kräfte behauptet, die Konvention sei darauf ausgerichtet, die Struktur der Familie zu zerstören und die Rechte von queeren Menschen voranzubringen.

Die Diskussionen in Polen und der Türkei sind nicht neu, sondern vielmehr Bestandteil der konservativen Wende unter den regierenden Parteien, die beide von religiösen Kräften gestützt werden. Zwischen der Geschlechterfrage und dem Aufschwung rechtspopulistischer Parteien besteht ein enger Zusammenhang – von Russland bis zu den USA.

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Diese Bewegungen wurden von Männern für Männer geschaffen. Ihre zentrale Botschaft ist es, dass Männer ihre Länder gegen echte oder vermeintliche Bedrohungen verteidigen müssen: gegen Flüchtlinge, gegen Wirtschaftsmigranten, gegen Menschen mit einer anderen Hautfarbe als die der Mehrheitsgesellschaft, gegen Juden, Muslime, Feministen, Schwule und Lesben oder EU-Bürokraten. Unterdessen wird den Frauen die Rolle zugeschrieben, die nächste Generation von Kindern zu gebären, um das Überleben der Nation sicherzustellen.

Die Reduktion von Frauen auf die Rolle als Gebärende hat in vielen europäischen Ländern an Gewicht gewonnen. 2016 forderte Erdogan Frauen öffentlich auf, mindestens drei Kinder zu bekommen. „Eine Frau“, so der Präsident, „die die Mutterschaft ablehnt, die sich weigert, im Haushalt anwesend zu sein, ist mangelhaft, ist unvollständig – egal, wie erfolgreich sie in ihrem Berufsleben ist.“

Frauen sollen Kinder kriegen - für die Nation

In Ungarn führte Premierminister Viktor Orban eine Reihe von Maßnahmen ein, die Frauen dazu bringen sollen, mehr Kinder zu bekommen. Diese Maßnahmen sollten „das Überleben der ungarischen Nation sichern“, wie er sagte. Mit dieser Rhetorik wird die sehr persönliche und unumkehrbare Entscheidung von Frauen, ob sie eine Familie gründen wollen, aus dem Bereich des Privaten in den politischen Bereich gehoben, das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung wird dem Anspruch der Nation untergeordnet.

Diese Haltung gegenüber dem Körper der Frau betrifft nicht nur das Gebären, sondern auch Themen wie Abtreibung und Gewalt. In der Türkei sind patriarchale Normen in der Rhetorik der AKP immer bedeutender geworden. Wissenschaftler sprechen daher vom Versuch einer „Normalisierung“ der Gewalt gegen Frauen.

Wie in der Türkei betrachten Konservative in vielen anderen Ländern das, was zu Hause passiert, als Privatangelegenheit – statt als Verstoß gegen die international anerkannten Menschenrechte von Frauen. Wenn wie im Polen der PiS-Partei die traditionelle heterosexuelle Familie von den Regierenden zum Heiligtum erklärt wird, wird das Wohlergehen und die Sicherheit einzelner Familienmitglieder zweitrangig.

Gewalt gegen Frauen? Ach, wenn's nur Blutergüsse sind....

Russland ist 2017 sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hat häusliche Gewalt entkriminalisiert, solange die Folgen nur „geringfügig“ sind, gemeint sind etwa Blutergüsse.

In der Türkei wird die AKP in der nächsten Woche darüber entscheiden, ob sie aus der Istanbul- Konvention austritt. In Polen wird die Entscheidung länger auf sich warten lassen: Auf Ersuchen der Regierung wird sich das oberste Gericht des Landes damit befassen. Manche Beobachter meinen, das sei der Versuch, die Angelegenheit vorerst von der politischen Agenda zu nehmen und Auseinandersetzungen mit internationalen Partnern und Menschenrechtsgruppen zu vermeiden.

Selbst wenn am Ende doch keines der beiden Länder aus dem Abkommen austreten sollte: Der Schaden ist angerichtet. Allein durch das Aufwerfen der Frage haben beide Regierungsparteien ein Signal an diejenigen Wähler gesendet, die implizit oder explizit die männliche Kontrolle über Frauen unterstützen.

Ebenso wie US-Präsident Donald Trump, der einst damit prahlte, er könne mit Frauen machen, was er wolle („grab ’em by the pussy“), haben AKP und PiS so misogyne Haltungen gestärkt und mögliche Täter ermutigt.

Jede kann unter der Kleidung blaue Flecke haben

Für andere Länder in Europa sollte die Diskussion in der Türkei und in Polen ein Weckruf sein. Sie sollten weiter daran arbeiten, in der Gesellschaft ein Bewusstsein für das Problem zu schaffen. Sprache ist dabei zentral, etwa indem man das Wort „Femizid“ für Tatbestand der gezielten Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlecht etabliert. Sie sollten außerdem Hilfsangebote für Betroffene ausweiten.

Im vergangenen Jahr hat Deutschland angekündigt, in den nächsten vier Jahren pro Jahr 30 Millionen Euro für Hilfsangebote zusätzlich auszugeben. Regierungen sollten auch über geeignete Schutzmaßnahmen nachdenken, bevor eine zweite Coronawelle kommt.

Häusliche Gewalt betrifft Menschen in allen Lebenslagen, alte wie junge, reiche und arme. Wenn Sie in Berlin mit der U-Bahn fahren, kann jeder, den Sie sehen, unter der Kleidung blaue Flecken haben und Angst davor, was sie oder ihn heute zu Hause erwartet. Manche jedoch sind besonders betroffen: Menschen, die sozial isoliert sind, Menschen, die kein eigenes Einkommen haben oder die Sprache des Landes nicht sprechen, in dem sie leben, und Menschen, die auf dem Land leben, wo es weniger Hilfsangebote gibt. Die Pandemie trifft die Schwächsten am härtesten – auch die Opfer von häuslicher Gewalt.

Annabelle Chapman

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