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Mit Narrenkappe und Deutschland-Flagge. Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen vor dem Brandenburger Tor in Berlin.

© Kay Nietfeld/picture alliance/dpa

Corona und die Deutschen: Je unklarer die Lage, desto unbarmherziger das Urteil

Auf Corona war niemand vorbereitet. Bis heute gilt: Nichts Genaues weiß man nicht. Trotzdem verteidigt jeder seine Position vehement. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

In Abwandlung eines Bonmots von Wilhelm Busch lassen sich viele Anti-Corona-Maßnahmen am besten mit dem Satz charakterisieren: „Der Sinn – und dieser Satz steht fest –, ist stets der Unsinn, den man lässt.“

Ein Beispiel: Bei einer korrekt sitzenden FFP2-Maske sinkt das Infektionsrisiko auf unter ein Promille (0,1 Prozent). Das gilt selbst dann, wenn eine infizierte und eine gesunde Person sich auf kurzer Distanz mehr als 20 Minuten lang begegnen.

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Tragen beide Personen eine OP-Maske, liegt die Ansteckungswahrscheinlichkeit allerdings bei bis zu zehn Prozent. FFP2- oder OP-Maske? Das darf trotzdem jeder für sich selbst entscheiden. Wer soll das verstehen?

Die Zahlen resultieren aus einer Studie des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen.

Vorausgesetzt, dass sie stimmen, stellt sich eine weitere Frage: Was rechtfertigt den Unterschied zwischen einem Ungeimpften mit FFP2-Maske und einem tagesaktuellen negativen Coronatest, der im Einzelhandel ein Weihnachtsgeschenk kaufen möchte, es aber aufgrund der 2G-Regel nicht darf – und einem Ungeimpften mit OP-Maske und ohne negativen Test, der zwei Stunden lang durch ein überfülltes Feinkostgeschäft schlendern darf?

Über solche und ähnliche Vertracktheiten wird ebenso heftig wie ergebnislos diskutiert. Denn die Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit, Gerechtigkeit, Nutzen und Plausibilität eines jeden Pandemiebekämpfungsplans ist groß.

Das Wissen aber über Ansteckungsorte und Übertragungswege ist leider begrenzt. Außerdem mutiert dieses Virus nach ihm eigenen Gesetzen. Es ist möglich, dass gegen die übernächste Mutante alle bisher gebrauchten Impfstoffe wirkungslos sind. Dann finge alles wieder von vorne an. Hoffentlich tut es das nicht.

[Lesen Sie auch: Omikron-Mitentdecker Preiser: „Ich bezweifle, dass wir die Pandemie ohne angepassten Impfstoff beenden“ (T+)]

Im seltsamen Kontrast indes zur Vielzahl der Unvorhersehbarkeiten steht die weit verbreitete Neigung zum Fällen endgültiger Urteile. Schulen schließen, harter Lockdown, Impfpflicht für alle: Das fordern die einen. Weder Masken- noch Impfpflicht, die Grundrechte schützen: Das skandieren die anderen.

Zu wenig, zu spät, zu halbherzig trifft auf zu hart, zu unbegründet, zu übergriffig. Je schwankender der Urteilsgrund, desto energischer wird die eigene Position verteidigt.

„Ein Fanatiker, ein Schurke und ein äußerst gefährlicher Mensch“

Vom polnischen Dichter Czeslaw Milosz, der 1980 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, stammt die Geschichte „Ein alter Jude aus Galizien“.

Darin heißt es: „Wenn jemand zu 55 Prozent recht hat, dann ist das gut, und es hat keinen Sinn, darüber zu streiten. Und wenn jemand zu 60 Prozent recht hat, dann ist das wunderbar, ein großes Glück, und Gott sei gedankt dafür. Aber was ist, wenn jemand zu 75 Prozent recht hat? Kluge Leute sagen, das sei verdächtig. Nun gut, wie ist es dann, wenn jemand zu 100 Prozent recht hat? Wer auch immer sagt, dass er zu 100 Prozent recht hat, ist ein Fanatiker, ein Schurke und ein äußerst gefährlicher Mensch.“

Auf Corona war niemand vorbereitet. Es folgten Irrtümer und Ratlosigkeiten. Politiker aber wollen nicht wankelmütig wirken, sondern Sicherheit ausstrahlen. Alles im Griff. Dabei wissen die meisten Bürger, dass das nicht stimmt. Vielleicht ließe sich das Vertrauen am ehesten wiederherstellen, wenn einer der Verantwortlichen mal öffentlich mit den Achseln zucken würde.

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