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Das Bundeskanzleramt im Spiegel. Drinnen ging es beim Corona-Gipfel teilweise wild zu.

© Michael Kappeler/dpa

Corona-Gipfel im Kanzleramt: Lockerungen bei Inzidenzwerten, die bisher als Alarmstufe Rot galten

Der Druck war zu groß geworden: Ein Strategiewechsel in der Corona-Politik soll Entlastung bringen. Mit möglicherweise fatalen Folgen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Robert Birnbaum

Strategiewechsel ist ein großes Wort. Aber was die deutsche Corona-Politik gerade zu vollziehen versucht, hat schon viel von einer Kurswende. Bisher dominierte die pandemische Logik. Jetzt wird sie zur Fußnote herabgestuft, zur „Notbremse“ für den Fall, dass das Virus doch wieder stärker ist als der schöne Plan.

Der lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Aus Vorsicht und Umsicht wird Hoffen und Bangen.

Ein Feldherr wechselt seine Strategie freilich erst, wenn er muss. Und tatsächlich, der Druck ist groß. Die Zahlen sinken nicht auf die magische Inzidenz 35, sie steigen. Zugleich nehmen viele Menschen manche Regel nicht mehr todernst.

Auch der organisierte Druck steigt massiv: Wirtschaftsverbände klagen, Bildungsexperten warnen, Opposition schlaumeiert. Das tun sie alle vom ersten Tag an. Aber nach einem Jahr wird das Argument ganz von selbst stärker, dass nicht nur Corona, sondern genauso der Kampf gegen die Seuche jeden Tag mehr und größere Opfer fordert.

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„Pandemiemüdigkeit“ ist das Wort der Stunde. Nun wird man manchmal den Verdacht nicht los, dass sie Politiker noch schneller befällt als normale Menschen.

Man ist es in den Staatskanzleien und Ministerien leid, sich immer wieder für harte Maßnahmen zu rechtfertigen. Die alten Gegensätze zwischen den Niedriginzidenzländern und den aktuell schwer Betroffenen brechen wieder auf. Ein kräftiger Schuss Wahlkampf kommt dazu.

Gibt auch gute Gründe für die neue Strategie

Das koordinierte Bemühen der SPD ist ja nicht zu übersehen, sich als Kämpfer für Öffnung zu profilieren und zugleich die Corona-Helden der Union bis zur Bundestagswahl vom Umfragen-Podest zu schubsen: die Kanzlerin ab in die Meckerecke, den Gesundheitsminister als Sündenbock gleich fort in die Wüste. Jens Spahn macht es ihnen dabei auch noch selber leicht.

Nun gibt es für die neue Strategie nicht nur solche zweifelhaften, sondern zugleich ein paar gute Gründe. Immer mehr alte Menschen sind geimpft, Betreuer und Mediziner. Das hilft, den Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu verhindern. Schnelltests für den Hausgebrauch können versteckte Infektionen aufspüren und dem Virus Wege abschneiden.

[Mehr zum Thema: Die Rekonstruktion von Merkels Corona-Kehrtwende: „Wildes Gekläffe, vom Kanzleramt bis nach Bayern und zurück“ (T+)]

Impfen und Testen verändern die Lage. Die Frage ist nur: Verändert es sie schon genug? Ist die Zeit reif für eine neue Strategie? Oder bauen sich die Verantwortlichen bloß eine Scheinwelt, in der Öffnungen angeblich gefahrlos möglich sein sollen – bei Inzidenzwerten, die bis vor Kurzem noch als Alarmstufe Rot galten?

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Eine Welt, in der plötzlich eine digitale Kontakt-Registratur funktioniert und in der neben der Impfinfrastruktur aus dem Stand eine weitere zum Testen entsteht.

Eine Welt obendrein, in der alle Menschen verstehen, dass Schnelltests nur eine Krücke sind, keine Eintrittskarte zur Freiheit und kein Anlass, sich in die Arme zu fallen nach dem Motto: Wozu Maske und Abstand, ich bin doch negativ? Menschlich verständlich, trotzdem falsch.

Beim Corona-Gipfel war manchem Strategen selbst nicht wohl

Da liegt der schwierigste Teil des riskanten Manövers. Der Verband der leidgeprüften Intensivmediziner fordert „extreme Disziplin“, wenn das Öffnen mitten in der dritten Welle nicht in der Katastrophe enden soll. Aber wenn das Öffnen vor allem auch die Reaktion auf nachlassende Disziplin ist, wo soll die striktere dann herkommen?

Bei solchen Widersprüchen fängt das Hoffen an, ins Bangen überzugehen. Beim Corona-Gipfel war manchem Strategen selbst nicht wohl. Ein komplexes Regelwerk aus Inzidenzwerten und Zeitplänen, ein bürokratisches Unding aus Lockerung und Notbremsen lag auf dem Tisch.

Im Lauf der Nacht musste Angela Merkel Notbremsen weiter lockern lassen, um wenigstens zu verhindern, das sofort Alleingänge anfangen.

So macht man die Leute bockig. Wer das Virus besiegen will, braucht sie aber, diese Leute. Auf einer klaren Linie gehen die mit; nicht mehr alle, aber immer noch genügend. Eine Strategie, die keiner nachvollzieht, freut hingegen nur einen: Sars-CoV-2, Variante B.1.1.7.

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