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Europa bei Nacht.

© dpa / picture-alliance

„Code is Law“: Warum Europa dringend digital souverän werden muss

Europa konkurriert bei der Digitalisierung mit den USA und China in einem hochpolitischen Wettbewerb. Es braucht ein grundlegend neues Denken. Ein Gastbeitrag

Doktor Annegret Bendiek forscht unter anderem zu Cybersicherheit und europäischer Außenpolitik an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Jürgen Neyer hat die Professur für Europäische und Internationale Politik an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) inne.

Die deutsche Ratspräsidentschaft in der EU steht vor großen Aufgaben. Neben der Bekämpfung der Pandemie hat es sich die Bundesregierung zum Ziel gesetzt, die technologiepolitische Selbstbestimmung Europas und damit seine „digitale Souveränität“ zu stärken.

Denn Europa ist zum Schauplatz einer intensiven politischen und ökonomischen Auseinandersetzung zwischen drei miteinander im Wettstreit liegenden Weltanschauungen geworden ist. China, die USA und Europa konkurrieren miteinander um internationale Technologiestandards, um die Beherrschung digitaler Kommunikationsplattformen und um die Dominanz von Märkten für digitale Produkte.

Die Konkurrenz zwischen den drei Mächten findet weder in der Luft noch zur See, sondern auf den Marktplätzen der Welt und in den Konferenzräumen der International Telecommunicatons Union, dem Internet Governance Forum, der OECD und vieler anderer internationaler Foren statt.

Die Konkurrenten organisieren ihre Kräfte in den lobbyistischen Zirkeln rund um den US-Kongress, den Institutionen der EU und den Gremien der inzwischen staatskapitalistisch agierenden Kommunistischen Partei Chinas. Ihre Munition wird nicht in industriellen Fabriken, sondern in den Forschungslabors von Softwareschmieden, Digitalkonzernen und Universitäten hergestellt und in Form nachgefragter Produkte auf globalen Märkten an den Konsumenten gebracht. Der moderne Kampf zwischen den Systemen ist ein Wettbewerb um die attraktivsten Produkte und Märkte.

"Code is Law"

Dieser Wettbewerb ist gleichwohl alles andere als unpolitisch. In modernen digitalen Technologien sind Wertentscheidungen und damit gesellschaftspolitische Richtungsentscheidungen aufgehoben. Lawrence Lessig schrieb schon vor über zwanzig Jahren völlig zu Recht: „Code is Law“.

Es macht einen wesentlichen und vom Gesetzgeber kaum noch einzuholenden Unterschied, ob die moderne Kommunikationsinfrastruktur in den Händen privater Anbieter liegt oder vom Staat kontrolliert wird. Eine privatisierte Agora folgt einer anderen Logik als eine republikanische Agora. Hier gelten Marktgesetze, dort die Gesetze der Mehrheit. Auf einer privatisierten und von Google, Facebook und anderen Megakonzernen kontrollierten Agora ist die Freiheit letztlich ein handelbares Gut.

Ganz ähnlich entzieht sich die Dynamik der Entwicklung künstlicher Intelligenz dann faktisch dem Zugriff des nationalen (oder auch europäischen) Gesetzgebers, wenn regulative Eingriffe zu gravierenden Wettbewerbsnachteilen führen und in ihren Konsequenzen weder ökonomisch noch politisch vertretbar sind.

Mit chinesischer Technologie erhalten auch chinesische Werte Einzug nach Europa. Gesichtserkennungssoftware, Social Scoring und andere Überwachungsinstrumente werden bereits heute auf dem europäischen Markt für die Kontrolle und Unterdrückung von Dissidenz angeboten.

Infrastruktur aus China ermöglicht chinesische Einflussnahme

Chinesische Infrastruktur impliziert die Möglichkeit chinesischer Einflussnahme. Und US-amerikanische Cloud- und Videokonferenzanbieter sind nur nicht qualitativ hochwertige Dienstleistungsanbieter, sondern eben auch Exporteure angelsächsischer Vorstellungen von beschränkter Datenprivatheit.

Heute muss über grundlegende Kategorien der Politik neu nachgedacht werden. Es braucht eine bewusste Souveränitätspolitik, die Rahmenbedingungen für eine europäische Selbstbestimmung schafft, ohne dabei die internationale Kooperation zu vernachlässigen. Diese augenscheinliche Quadratur des Kreises kann nur dann erfolgen, wenn Souveränität als eine kooperative Praxis verstanden wird.

Sie muss sich ihrer alten staatsrechtlichen Kleider entledigen und als eine Form des politischen Handelns neu verstanden werden, die in internationalen Organisationen und auf globalen Märkten tagtäglich neu unter Beweis gestellt wird. Souverän ist, wer in einem komplexen Netzwerk bestehend aus divergierenden nationalen, europäischen und internationalen Interessen und unter Beteiligung privater und öffentlicher Akteure einen robusten Konsens erzeugen kann.

Zugespitzt formuliert sind Google und Huawei nicht weniger souveränitätsspolitisch relevant als das deutsche Innenministerium. Europäische Souveränität ist als eine graduelle und relative Größe zu verstehen, die mit der Fähigkeit zur Einflussnahme auf international gültige Standards und Normen wächst oder auch abnimmt. Ihre wesentlichen Ressourcen sind nicht mehr die diplomatische Anerkennung durch Andere, sondern die Mobilisierung technologischer Expertise, das koordinierte Auftreten in internationalen Foren, die Attraktivität europäischer Normen und nicht zuletzt die Größe des europäischen Binnenmarktes.

Globale Verflechtung führt zu mehr Abhängigkeit von autoritären Staaten

Auch über wechselseitige Verflechtung muss neu nachgedacht werden. Wir können nicht mehr wie noch vor zwanzig Jahren einem naiven Globalismus anhängen, ohne die gesellschaftspolitischen Konsequenzen des internationalen Wettbewerbs mitzudenken.

Freier Handel kann den Import freiheitseinschränkender Technologien und die Setzung technologischer Rahmenbedingungen bedeuten, die dem Handeln des Gesetzgebers enge Grenzen ziehen. Die ehemals enthusiastisch angestrebte enge globale ökonomische Verflechtung führt eben nicht nur zu mehr Wohlstand, sondern auch zu mehr Abhängigkeit von autoritären Staaten und unregulierten Märkten.

Ökonomische Verflechtung muss daher heute sehr viel bewusster gestaltet werden und sensibel dafür sein, ob strategisch wichtige Vorprodukte für eigene Güter und Dienstleistungen im Zweifelsfall substituiert werden könnten. Wenn dringend benötigte Pharmazeutika, Rohstoffe oder Softwareprodukte ausschließlich von Systemkonkurrenten mit fundamental abweichenden gesellschaftspolitischen Vorstellungen angeboten werden, dann handelt es sich nicht mehr bloß um Verflechtung, sondern um Verwundbarkeit.

Hiermit ist gleichwohl keiner Abschottungspolitik das Wort geredet. Die Wohlstands- und Freiheitsgewinne der internationalen Arbeitsteilung sind hierfür viel zu hoch. Sehr wohl aber bedarf es einer gestaltenden Politik der strategischen Verflechtung, in der es zu einer selbstverständlichen Aufgabe der EU wird, branchen- oder bereichsspezifische Verwundbarkeiten zu identifizieren, Risiken zu bewerten und eine eigene digitale Industriepolitik zur Kompensation von politisch inakzeptablen Abhängigkeiten zu entwickeln.

Sicherheit verändert ebenfalls ihren Charakter. In der neuen Welt digitaler nicht-Attribuierbarkeit generieren transnationale Politiknetzwerke die Möglichkeit, Informationsflüsse zu steuern, Schadsoftware unerkannt in Umlauf zu bringen und Interdependenz als Waffe zu benutzen.

Das Denken in Kategorien des Konfliktmanagement und der Prävention wird heute zunehmend abgelöst durch ein Denken in den Kategorien von Resilienz. Strategische Vorausschau ist gefragt, sich auf ungewisse Zukünfte und auf das Nicht-Vorbereitbare einzustellen.

Es braucht einen bildungspolitischen "New Deal"

Smarte Reaktionsfähigkeit und redundante Sicherheitsstrukturen werden zum zentralen sicherheitspolitischen Paradigma. Auch die transatlantische Allianz muss hier auf den Prüfstand. Von den Enthüllungen Edward Snowdens bis hin zu der aktuellen Abwendung der USA vom Versuch einer OECD-weiten Harmonisierung der Besteuerung von Digitalunternehmen zieht sich eine lange Kette wachsender Uneinigkeiten. Die Betonung der Besonderheit der transatlantischen Allianz darf daher nicht als Argument missbraucht werden, um nötige Korrekturen im Umgang miteinander zu unterbinden.

Die digitale Welt braucht letztlich einen bildungspolitischen New Deal, wenn sie nicht an ihrem eigenen Erfolg zerbrechen soll. Einer aktuelle Studie des World Economic Forum (WEF) zufolge wird bis 2025 die von Maschinen geleistete Arbeit von 29 Prozent auf über 50 Prozent steigen.

Das McKinsey Global Institute schätzt, dass etwa dreißig bis sechzig Prozent der Arbeitsplätze vollständig automatisiert werden können. Künstliche Intelligenzen lernen zunehmend, anspruchsvolle intellektuelle Aufgaben, wie das Erkennen komplexer Muster, das Synthetisieren von Informationen, das Ziehen von Schlussfolgerungen und die Erstellung von Prognosen zu erfüllen.

Für humane Arbeit wird zwar immer Platz bleiben und persönliche Dienstleistungen werden nur begrenzt von Maschinen ersetzt werden können. Der bereits heute zu beobachtende Prozess der innovationsinduzierten sozialen Fragmentierung wird allerdings neue Dynamik erhalten und mittelfristig den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu zerreißen drohen.

Eine neue, postliberale Welt

Dieses wird nicht mit neuen Studiengängen für Informatiker und Ingenieure aufzuhalten sein. Es braucht vielmehr eine Ausdehnung gesellschaftlicher Teilhabe an der digitalen Transformation auf die bisherigen Verlierer des Innovationsprozesses und damit eine breit angelegte Bildungspolitik zur Schaffung einer digitalen Mittelschicht. Die neue postliberale Welt der digitalen Konstellation unterscheidet sich fundamental von der alten liberalen Welt des Freihandels. Mit dem intensivierten Waren- und Dienstleistungsverkehr geht auch ein Im- und Export von gesellschaftspolitischen Werten und damit von schleichenden, aber potentiell grundlegenden, politischen Weichenstellungen einher.

Das europäische Gesellschaftsmodell wird in diesem neuen digitalen Systemwettbewerb nur dann bestehen können, wenn es sich seiner grundlegenden Werte und ihrer Unterschiedlichkeit zum autoritären und zum marktbasierten Modell vergewissert.

Die europäischen Institutionen haben den Auftrag, hierauf aufbauend und unter Einbindung aller gesellschaftlichen Kräfte, eine wertorientierte „Binnenmarktaußenpolitik“ zu entwerfen, die sich ihrer Relevanz für die Gesellschaftspolitik bewusst ist.

Die Fähigkeit Europas, digitale Souveränität kontinuierlich neu herzustellen, wird von entscheidender Bedeutung dafür sein, ob wir auf dem Weg zu einer inklusiven Wohlfahrtgesellschaft in Europa bleiben. Hierfür braucht es nicht nur Innovationen, sondern auch ein solides Maß an wertbezogener Außenwirtschaftspolitik. Nur so wird Europa eine digitale Souveränität entwickeln, die seinem eigenständigen Charakter als liberalem Ort sozialer Rücksichtnahme und anspruchsvoller Menschenrechte gerecht wird.

Annegret Bendiek, Jürgen Neyer

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