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Der führende Kopf der Musiker, die den Clip gemacht haben, heißt Saniser.

© Youtube

Clip in kurzer Zeit ein Hit: Türkische Rapper rechnen mit System Erdogan ab

Es geht um Einschüchterung durch die Polizei, Massenfestnahmen, Gewalt gegen Frauen: Das Video „Susamam“ wurde in der Türkei bereits 13 Millionen Mal angesehen.

Gebannt blicken die Türken auf ein düsteres Bild ihres Landes. Korrupte Politiker, zerstörte Umwelt, misshandelte Frauen, brutale Polizisten – und eine Bevölkerung, die alles mit sich machen lässt. Ein Rap-Video mit dem Titel „Susamam“ – „Ich kann nicht schweigen“ – hat am Wochenende in der Türkei enormes Aufsehen erregt. In weniger als drei Tagen wurde der Clip rund 13,3 Millionen Mal auf Youtube angeschaut. Die Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan fühlt sich an den Pranger gestellt und reagiert pikiert.

„Susamam“ ist das Werk von 18 Rap-Musikern unter Leitung des Sängers Saniser. Jeder Künstler erhielt ein Thema, zu dem er einen Text schrieb und ein kurzes Video produzierte; Saniser fügte das insgesamt 15 Minuten lange Stück zusammen und veröffentlichte es in der Nacht zum Freitag. Einige Abschnitte prangern Missstände in der Politik an, andere die Tierquälerei und den Verkehrsterror auf den Straßen.

Der Clip wurde sofort zu einer Sensation. Das Video wurde am Wochenende zeitweise mehr als 100.000 Mal pro Stunde angeschaut. Allein auf Youtube gab es bis zum Sonntag fast 160.000 Kommentare dazu, und auch auf Twitter war „Susamam“ ein Top-Thema.

Kein Wunder. „Susamam“ spricht Dinge an, über die in der Türkei oft geschwiegen wird. In einer besonders bitteren Szene, die in einer Gefängniszelle spielt, rappt Saniser über die Verantwortung der Türken für die Zustände im Land. „Du hast den Mund nicht aufgemacht – also bist du schuld“, heißt es in der Passage.

„Die Gerechtigkeit ist tot, doch ich habe geschwiegen, weil ich nicht betroffen war. Jetzt lasse ich sogar von Twitter die Finger und habe Angst vor der Polizei meines Landes.“ Das Schweigen hat Folgen, warnt Saniser: „Wenn sie eines Nachts kommen und dich holen, dann wirst du keinen Journalisten finden, der darüber schreibt, denn sie sitzen alle im Knast.“

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Obwohl offene parteipolitische Botschaften in dem Lied größtenteils vermieden werden, ist jedem Hörer klar, wer gemeint ist, wenn es um die Angst im Land oder Korruption und Vetternwirtschaft geht: „Du musst Geld haben oder jemanden kennen, die hohen Tiere müssen deine Nummer haben, du musst jemanden im Weißen Palast kennen.“ Der „Weiße Palast“ heißt auf Türkisch „Ak Saray“ und ist unschwer als Anspielung auf die AKP und Erdogans Präsidentenpalast zu verstehen.

Viele Türken erkennen sich in dem Werk von Saniser und seinen Kollegen wieder. „Ich bin voller Hoffnung, ich bin stolz und ich fühle mich wie innerlich gereinigt“, kommentierte die Sängerin Sebnem Ferah begeistert.

AKP-Politiker und regierungsnahe Medien sehen das Video dagegen als Teil einer politischen Kampagne zur Destabilisierung des Landes. In dem Clip werde zum Aufstand aufgerufen, schrieb der frühere Oberbürgermeister von Ankara, Melih Gökcek, auf Twitter.

AKP-Anhänger starten Gegenkampagne

„Susamam“ sei der Versuch, neue Proteste nach dem Vorbild der regierungsfeindlichen Gezi-Demonstrationen von 2013 anzuzetteln. Hinter der Aktion stecke die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, ist sich Gökcek sicher. Gülen wird von der Erdogan-Regierung für den Putsch von 2016 verantwortlich gemacht; die AKP verweist fast reflexhaft auf die Gülen-Bewegung, um ihre Kritiker zu desavouieren. 

Auf Twitter starteten AKP-Anhänger eine Gegenkampagne unter dem Stichwort „Sustunuz“ – „Ihr habt geschwiegen“. Sie werfen den Rappern vor, den Putsch von 2016 und die Opfer der kurdischen Terrororganisation PKK nicht angesprochen zu haben.

Auf jeden Fall ist „Susamam“ hoch aktuell. Saniser veröffentlichte das Lied an dem Tag, an dem die Istanbuler Oppositionspolitikerin Can Kaftancioglu wegen einiger Twitter-Kommentare zu einer Gefängnisstrafe von fast zehn Jahren verurteilt wurde. Ein Skandal-Urteil und eine Warnung an alle, die sich kritisch über die Regierung äußern wollten, schrieb der Journalist Yalcin Dogan in einem Beitrag für die Nachrichtenplattform T24. Der Fall Kaftancioglu bestätige die Aussage von „Susamam“, schrieb Dogan und zitierte aus dem Lied: Die Türken lebten in der „Hölle.“

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