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Christen in China: Zwischen Christentum und Kommunismus

Reklame zum Weihnachtsfest und Videoleinwände im Gottesdienst. Tagtäglich steigt die Zahl der Christen in China um Tausende an. Es ist die am schnellsten wachsende Religionsgemeinschaft weltweit. Von einem "Fieber" ist die Rede, einem "Hype". Woher rührt der Trend?

Der Besucher ist klar als Großnase („Dabihdse“) zu erkennen. Die Frau mit der gelben Ordner-Jacke ruft ihm noch rasch auf Englisch hinterher: „Sie müssen die Treppen hoch, und beeilen Sie sich, sonst bekommen Sie keinen Platz mehr!“ Dann verschwindet sie aus dem Blick. Eine eilige Menschenmenge saugt jeden auf und gibt die Richtung der Bewegung vor. Stufe um Stufe nach oben. Es muss schnell gehen, weil die Gottesdienste sonntags in der Chaoyang-Kirche im Anderthalbstunden-Rhythmus abgehalten werden. Der erste beginnt um sechs Uhr morgens, der letzte am späten Nachmittag. Voll ist jeder. Knapp 2000 Gläubige fasst der monumentale Bau, der vor acht Jahren im Nordosten Pekings eingeweiht worden war. Längst ist er schon wieder zu klein.

Rot gekleidete Helferinnen weisen den Besuchern die Sitze auf den Holzbänken an. Eng an eng. Dann schließen die Türen. Die Gemeinde ist im Durchschnitt um die 40 Jahre alt, Kinder und Jugendliche sind nicht zu sehen. Ein Chor tritt auf, weiße Gewänder, grüne Schals, die Lieder einfach und eingängig. Der Ablauf des Gottesdienstes – welches Lied gesungen wird, wann die Gemeinde steht oder sitzt, die Liturgie – kann über Videoleinwände im ganzen Saal verfolgt werden. Stahlkonstruktionen an der Decke erinnern an eine Fabrikhalle. Das Kreuz am Altar ist in eines der wenigen Fenster eingelassen, manchmal scheint die smoggetrübte Sonne hindurch.

Die Botschaft von Pastorin Lin Ninghua an diesem Adventssonntag hat wenig mit Trost, Hoffnung und Versöhnung, viel dagegen mit Geboten, Moral und Gewissen zu tun. Ihre Stimme springt hoch und runter, sie fleht, fordert, mahnt. „Wenn ihr Gottes Wahrheit nicht folgt, seid ihr verloren.“ Sie warnt vor falschen Predigern und vor Homosexualität. Während das Abendmahl ausgeteilt wird (aus hygienischen Gründen in Plastikhandschuhen), werden Psalmen verlesen.

Die Chaoyang Church in China - wie immer gut besucht.
Die Chaoyang Church in China - wie immer gut besucht.

© Malte Lehming

Kurz vor Ende des Gottesdienstes bittet Lin Ninghua alle Besucher, die zum ersten Mal in der Chaoyang-Kirche sind, von ihren Plätzen aufzustehen, um für alle sichtbar zu sein. Ein gutes Dutzend erhebt sich. Der Rest der Gemeinde klatscht Beifall und schmettert ein Begrüßungslied. Die Lust am lauten Singen ist ausgeprägt. Man denkt an Karaoke-Bars oder Fanblöcke im Stadion. Dann geht’s rasch hinaus, die Treppen wieder herunter. Unten warten schon hunderte andere Gläubige, um einen Sitzplatz im nächsten Gottesdienst zu bekommen. Massenabfertigung? Das Wort klingt falsch, obwohl es trifft.

Derselbe Sonntag, zwei Stunden später. Die Haidian-Kirche liegt im Universitätsviertel von Peking. Der Ursprungsbau von 1933 erwies sich vor vielen Jahren als zu klein und wurde abgerissen. Das deutsche Architektenbüro um Meinhard von Gerkan entwarf den großen Neubau, der Mitte 2007 eingeweiht wurde. Ein schlichtes, weißes Kreuz hält das imposante Eingangsportal zusammen. Der Altar besteht aus einer überdimensionierten Videoleinwand, schräg davor ein rotes Neonkreuz. Das Predigerpult steht fast in der Mitte des Raumes. Das Publikum ist jung, studentisch, Kirchentagsatmosphäre. Auch die Haidian-Kirche ist bis auf den letzten Platz gefüllt.

Hier geht’s eher gefühlig zu. Der amerikanische Gastprediger Andrew Palau erzählt auf Englisch von seinen Erweckungserlebnissen und seiner Wiedergeburt als Christ. „Gott ist auch euch nahe, er fühlt eure Schmerzen, er kennt eure Nöte.“ Eine Laien-Musikband mit Schlagzeuger intoniert Gospels. Um den Heiligen Geist zu empfangen, sollen die Gottesdienstbesucher ihre Hände in die Höhe strecken. „Fühlt ihr ihn? Fühlt ihr ihn?“ Am Ende werden, wie zuvor in der Chaoyang-Kirche, alle Neu-Besucher mit Beifall und Lied willkommen geheißen. Abgekündigt werden die anschließende Bibelstunde und diverse Taufgespräche. Es sind Erwachsenentaufen, denn die Religionsfreiheit beginnt in China erst mit 18 Jahren.

Auf Spurensuche der Faszination "Christentum"

Chinas Christen sind ein Phänomen. Ständig werden es mehr. Jedes Jahr steigt ihre Zahl um mindestens eine Million. Wie viele es heute genau sind, ist umstritten, Schätzungen reichen von 40 bis 130 Millionen. Die Wahrheit liegt dazwischen. Doch zweifellos gehören sowohl die protestantische als auch die katholische Kirche in China zu den am schnellsten wachsenden Religionsgemeinschaften weltweit. Das Engagement der Gläubigen, ihre Vitalität und spirituelle Hingabe – all das ist einzigartig. Von einem „Boom“ ist die Rede, einem „Fieber“ und „Hype“.

Schätzungen zufolge gehen an einem normalen Sonntag inzwischen mehr Chinesen in eine Kirche als Europäer. Noch zu Maos Zeiten, besonders während der Kulturrevolution (1966 bis 1976), wurden alle Religionen als „Aberglaube“ bekämpft, viele Tempel und Kirchen wurden zerstört oder vom Staat umfunktioniert. Christen wurden in  Arbeitslager gesperrt, kamen in Haft oder starben als Märtyrer.

Das änderte sich nach Maos Tod im Jahr 1976. Unter Deng Xiaoping wurde 1979 die Religionsfreiheit in die Verfassung aufgenommen. Sie gilt offiziell für fünf Religionen – Buddhismus, Taoismus, Islam, Katholizismus und Christentum. Die Unterscheidung in Katholizismus und Christentum hat ihren Grund in einer verschiedenen Übersetzung des Wortes „Gott“. Protestanten und Nicht-Christen nennen ihn auf Chinesisch „Shangdi“, was soviel wie „oberster Herrscher“ heißt, während Katholiken ihn als „Tianzhu“ bezeichnen („Herr des Himmels“).

Weil die Religionsausübung zu Maos Zeiten streng verboten war, gingen viele Christen in den Untergrund. Sie trafen sich geheim und in so genannten Hauskirchen. Seit Einführung der Religionsfreiheit versucht der kommunistische Staat, die Kontrolle über Chinas Christen zurück zu gewinnen. Protestanten werden in der staatlich überwachten, aber auch vom Staat unterstützten „Drei-Selbst-Bewegung“ eingebunden (die Kirchen müssen sich selbst verwalten, selbst finanzieren und selbst das Evangelium verkünden); für Katholiken gilt dasselbe im Rahmen der „Patriotischen Vereinigung“.

Katholiken, die sich der „Patriotischen Vereinigung“ anschließen, müssen daher ihre Bischöfe selbst ernennen, Beziehungen zum Papst und Vatikan sind untersagt. Päpstliche Bischofsernennungen werden als „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ strikt abgelehnt. Seitdem sich im Sommer 2012 der Bischof von Shanghai, Thaddeus Ma Daqin, ausgerechnet bei seiner Amtseinführung zum Papst bekannte und seinen Austritt aus der Staatskirche erklärte, steht er unter Hausarrest.

Wegen des großen Mangels an Kirchengebäuden und Geistlichen gibt es auch Hauskirchen, die sich einer registrierten Kirche angeschlossen, aber selbst nicht beim Staat registriert sind. Sie werden vom Staat geduldet, sind weder verboten noch ausdrücklich erlaubt. Auch gibt es Christen, die sowohl registrierte als auch nicht-registrierte Gemeinden besuchen. Die Entscheidung fällt oft aus ganz pragmatischen Gründen. Protestanten können in Kirchen der „Drei-Selbst-Bewegung“ ihre Religion fast ungehindert praktizieren.

Die stärkste Wachstumsdynamik verzeichnen die protestantischen Hauskirchen. Das hat zum einen mit der weitaus prekäreren Lage der romtreuen Katholiken zu tun, zum anderen mit der aktiven Missionstätigkeit amerikanischer und koreanischer, zumeist evangelikal oder charismatisch geprägter Prediger. Überdies gilt der Protestantismus als liturgisch leichter zu vermitteln.

Chinas Kirchen sind post-denominational. Die konfessionellen Unterschiede wurden aufgehoben, historisch bedingte theologische Unterschiede eingeebnet. Selbst bei der Liturgie sind Annäherungen zu beobachten. Nicht-registrierte protestantische Hauskirchen sind allerdings anfällig für Sektierer und das Wirken selbst ernannter geistlicher Mentoren. Die Religionsfreiheit gilt ab 18 Jahren. Kinder und Jugendliche sind fast nie im Gottesdienst zu sehen. Ausländische Missionare und Pfarrer dürfen in China offiziell nicht arbeiten, sie kommen daher meist als Lehrer ins Land.

Wegen der engen Verbindung von Missions- und Kolonialgeschichte galt das Christentum in China lange Zeit als Religion der Ausbeuter und Fremden. Eine nennenswerte christliche Gemeinde gibt es im Land seit dem 16. Jahrhundert durch Jesuiten aus Portugal (Matteo Ricci), der erste protestantische Missionar war Robert Morrison (1807), der auch die Bibel ins Chinesische übersetzte. Die Boxerrebellion (1900) wurde wesentlich durch christliche Missionstätigkeiten ausgelöst – und von den Vereinigten acht Staaten Japan, Russland, England, Frankreich, Amerika, Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien blutig niedergeschlagen.

Der Imagewandel ist eine neue Entwicklung. Die so genannten Christentumsforscher entdeckten die Religion als essenziellen Bestandteil der chinesischen Geschichte und Kultur. Vor allem auf den Gebieten Bildung, Wissenschaft, Gesundheit und Soziales haben Christen die chinesische Gesellschaft nachhaltig geprägt. Was erklärt nun die anhaltende Faszination der ursprünglich fremden, westlichen Religion im kommunistischen Reich der Mitte?

Die Spurensuche beginnt in einem kleinen Café im Zentrum von Peking. Ganz in der Nähe, an der „Foreign Studies University“, unterrichtet Yang Huiling Religionswissenschaften. Die junge Frau sieht zwei Faktoren am Werk, die ineinandergreifen. Da sei zum einen das inzwischen positive Image des Christentums als eine westliche Religion. Das symbolisiere Modernität, Wissenschaft, Technologie. Besonders die junge Generation in China sei stark durch Hollywood, Popkultur, Amerika geprägt. Diesen Idealen eifere sie nach. Zum anderen, sagt Yang Huiling, seien die Werte des Christentums im hohen Maße kompatibel mit denen des offiziellen Kommunismus – Gleichheit, Einheit, kollektive Harmonie, Friedensliebe, Solidarität. Das ermögliche es, sich als chinesischer Christ zu fühlen, ohne vollständig in eine fremde Haut schlüpfen zu müssen.

Nächstenliebe macht's möglich

Ließen sich christliche und westliche Werte gleichsetzen, hätte die kommunistische Partei wohl leichtes Spiel, an den chinesischen Nationalismus zu appellieren, um das Christentum diskreditieren zu können. Doch so einfach ist es nicht. Außerdem, sagt Yang Huiling, verstehe die Regierung durchaus, dass Religionen in gesellschaftlichen Umbruchzeiten ein stabilisierender Faktor sein können. Die Christen, die sonntags in den Gottesdienst gehen, sind gewiss keine Umstürzler, sondern in der Regel fleißige, hart arbeitende Menschen. Sie sind diszipliniert, organisiert und wertebewusst. Kann sich eine Regierung bessere Untertanen wünschen?

Die Kommunistische Partei Chinas indes betrachtet die Welt auch mit anderen, ängstlicheren Augen. Sie denkt in Strukturen der Macht. Und ins Gedächtnis der Machthaber hat sich die Wirkung des Mottos von Papst Johannes Paul II. eingegraben, mit dem er 1978 sein Amt angetreten hatte: „Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus!“ Am Ende der dadurch ausgelösten Entwicklung war die polnische sozialistische Regierung von der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc gestürzt worden. Oder die kirchlichen Freiräume in der DDR: Waren sie nicht Orte, in denen sich der Widerstand formierte? Vielleicht ist das Christentum eine raffinierte Finte des Westens, um die Strukturen des Kommunismus zu schwächen. Vielleicht soll China ebenso zerschlagen werden wie die Sowjetunion.

Moderne bedeutet nicht Abkehr von Religion

Karl-Heinz Schell ist Pfarrer. Seit 2008 wohnt er in Peking und leitet dort die Evangelische Gemeinde deutscher Sprache. Er bewundert seine chinesischen Glaubensbrüder. „Die haben allen Grund, stolz zu sein. Die Kirchen wurden ja erst seit 1980 wiederaufgebaut.“ Die Sympathie des 53-Jährigen für die staatlich sanktionierten Drei-Selbst-Kirchen, zu denen auch die Chaoyang- und die Haidian-Kirche gehören, ist in den vergangenen Jahren gestiegen. „Wer nicht an der Vormacht der Partei rührt, kann dort alles machen.“ Die Zusammenarbeit zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der offiziellen Vertretung der Protestanten in China funktioniere reibungslos, der Obskurantismus vieler nicht-registrierten Hauskirchen schrecke ihn eher ab. Sektenverdacht.

„Hier fällt auf, was Nächstenliebe alles möglich macht“, sagt Schell, „und was alles nicht geht, wenn Nächstenliebe fehlt.“ Für viele Chinesen sei aber auch der Nützlichkeitsaspekt von Religion wichtig. „Man heiratet als Christ, legt den Grundstein für sein Haus mithilfe von Naturgöttern und lässt sich als Buddhist beerdigen.“ Religionskonsum als Teil der spirituellen Warenwelt.

Kommunismus, Kapitalismus, Konsum, Kälte, Konkurrenz: All das liegt in China heute sehr eng beieinander. Der gewaltige Modernisierungsschub hat allerdings keine Abkehr vom Religiösen erzeugt oder eine Zunahme des Säkularen, sondern im Gegenteil: die Suche nach Gemeinschaft, Halt und Spiritualität. Eine „innere Leere“ müsse ausgefüllt werden: Das ist immer wieder zu hören. Und im Unterschied etwa zum Buddhismus und Taoismus bietet das Christentum durch Gemeinde, Gottesdienst, gemeinsames Singen und Beten ein hohes Maß an Geborgenheit. Der „Kuschelfaktor“ ist hier am höchsten.

Sind Christen der Sand im Getriebe des Systems?

Was ist das, China heute? Einige Blitzlichter aus allerjüngster Zeit. – In der Stadt Gongbao trinkt ein 45-jähriger Familienvater aus Verzweiflung Unkrautvernichtungsmittel und stirbt. Um den armen Bauern zu bestrafen, weil er und seine Frau fünf Kinder gezeugt hatten, war sein gesamtes Vermögen in Höhe von 3,5 Tonnen Weizen beschlagnahmt worden. – Ein Dutzend Menschen aus der Stadt Wuhan trinkt ebenfalls Flaschen mit Pestiziden aus, weil sie nie für den Abriss ihrer Häuser vor drei Jahren kompensiert worden waren. In letzter Minute können sie gerettet werden. – Chinesen arbeiten am längsten und härtesten. Das besagt eine neue Studie. 8,66 Stunden pro Tag plus 0,96 Stunden Hin- und Rückweg zur Arbeit. Das erste Jahr im neuen Job gibt es gar keinen bezahlten Urlaub, danach fünf Tage im Jahr. – Rund ein Drittel der Gymnasialschüler in der Provinz Zhejiang haben ein akutes Depressionsrisiko. Ihre Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften liegen über dem nationalen Durchschnitt.

Hinzu kommt: China wird schneller giftig als grün und schneller alt als reich. Der Smog in diesem Winter erreichte historische Höchstwerte, die Nachfrage nach Autos und Elektrogeräten ist unvermindert hoch. Durch die Ein-Kind-Politik vergreist das Land, das schon jetzt die prozentual größte Zahl an Senioren hat. Und schließlich vertieft sich die Kluft zwischen Reich und Arm wesentlich rasanter als etwa in Europa oder Amerika.

Sind Christen nun Sand im Getriebe eines solchen Systems? Oder das Schmierfett, das es am Laufen hält? An kaum einem Ort sind die Spannungen zwischen christlicher Religion und kommunistischem Alleinherrschaftsanspruch stärker zu spüren als rund um die St.-Ignatius-Kathedrale in Schanghai. Das Gebäude nebenan ist der Sitz der Diözese. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Kathedrale von französischen Jesuiten im gotischen Stil erbaut. Sie fasst 2500 Gläubige und galt lange Zeit als größte Kirche Chinas.

Am Eingang stößt der Besucher als Erstes auf ein großes Bild von Papst Johannes Paul II. Das ist Bekenntnis und Provokation zugleich! Nicht nur drückt sich darin die innere Romtreue der Schanghaier Katholiken aus, sondern mit Johannes Paul II. wurde auch jener Papst ausgesucht, der den Kommunismus am stärksten herausgefordert hatte. Der Bischof der katholischen Diözese, Joseph Fan Zhongliang, steht seit vielen Jahren unter Hausarrest. Der Weihbischof wiederum, Thaddäus Ma Daqin, wurde am 7. Juli 2012 mit Zustimmung Roms geweiht, sagte sich bei seiner eigenen Bischofsweihe von der Patriotischen Vereinigung los und wurde ebenfalls unter Hausarrest gestellt.

"Wir beten für diese Menschen."

Kann ein Katholik die Autorität des Papstes, insbesondere bei der Bischofsernennung, infrage stellen? Genau das verlangen die kommunistischen Machthaber von den chinesischen Katholiken. Die wiederum reagieren darauf mit zum Teil subversiven Methoden. Im Gemeindeblatt für den 2. Adventssonntag wird die Geschichte von John Roberts erzählt. Der Benediktinermönch ging Anfang des 17. Jahrhunderts als Missionar nach England und widersetzte sich dem Supremats-Akt von König Heinrich VIII., der sich damit zum Oberhaupt der anglikanischen Kirche bestimmt hatte. Wegen seiner Treue zum Papst wurde John Roberts zum Tode verurteilt. „Diese Geschichte hilft uns, die innere Stärke und Opferbereitschaft von Missionaren zu verstehen“, heißt es dazu im Gemeindeblatt. „Wir beten für diese Menschen.“

Kundige Gläubige verstehen, welch akute Relevanz die Geschichte von John Roberts für Chinas Katholiken hat. Denn sie erinnert frappant an Bischof Aloysius Jin, den Nelson Mandela der chinesischen Christen. Aloysius Jin war vor acht Monaten im Alter von 96 Jahren gestorben. Wegen seines Glaubens hatte er 27 Jahre im Gefängnis gesessen, viele davon in Einzelhaft. Seine Loyalität zum Papst war lange Zeit unumstößlich. Später trat er dann doch in die „Katholische Patriotische Vereinigung“ ein. 1988 wurde er Bischof von Schanghai, geweiht mit dem Segen des Papstes.

Im Zickzackkurs nach oben

Zur Diözese von Schanghai gehört auch die St.-Peter’s-Kirche. Pfarrer Anthony Chen stammt aus einer katholischen Familie, die zu Maos Zeiten schwer unter Verfolgung gelitten hatte. Zwei seiner Schwestern sind Nonnen, ein Bruder ebenfalls Pfarrer. Chen selbst wagt den Spagat, den Bischof Jin beispielhaft vorgelebt hat. „Wir befolgen die Gesetze des Staates – und die der Kirche“, sagt er. „Wir hören genau zu, was der Papst zu sagen hat.“ Dem unter Hausarrest stehenden Bischof gehe es gut, „ich sehe ihn fast täglich im Seminar“.

Zur staatlichen Akzeptanz des Christentums in China trägt auch die Sozialarbeit christlicher Organisationen bei. In Hongkong, wo die Religionen aufgrund der britischen Kolonialgeschichte sehr viel freier praktiziert werden können als auf dem chinesischen Festland, residiert die „Amity Foundation“. Sie wurde 1985 gegründet und war damals ein Drei-Personen-Betrieb. Inzwischen engagiert sie sich in knapp 400 Projekten in China – von Blindenschulen, Alters- und Waisenheimen bis zur Ausbildung von Frauenärzten und Chirurgen vor allem auf dem Land. Anthony Tong Kai Hong, den alle „Tony“ nennen, ist „Executive Director“ der Amity Foundation. Er beschreibt die Entwicklung der Religionsfreiheit in China als „Zickzackkurs nach oben“. Die Freiheit nehme zu, auch wenn es immer mal wieder Rückschläge gebe. Finanziert wird seine Organisation vor allem durch Spenden aus dem Westen.

Jeden Tag ein neuer Christ

Das Christentum in China, sagt Tony, entwickle sich sehr unterschiedlich. Auf dem Land strömten die Armen, Ungebildeten und Alten in die Kirchen, in den Städten seien es die Reichen, Gebildeten und Jungen. Hier wie dort indes halte der Boom an. „Pro Tag sind es Tausende, die in China zum Christentum konvertieren.“

Ebenfalls in Hongkong, etwas außerhalb der Stadt auf einem kleinen Berg gelegen, residiert das „Lutheran Theological Seminary“ (LTS). In der weiß getünchten, idyllischen Anlage studieren überwiegend Geistliche aus Südostasien – China, Laos, Myanmar, Thailand, Vietnam, Kambodscha, Indonesien. Überall in der Region fehlt es an ausgebildeten Pfarrern. Besonders in China ist das theologische Fundament oft dünn. Die Praxis wird gern so beschrieben: Ein Chinese, der seit zwei Jahren Christ ist, unterrichtet einen Chinesen, der seit einem Jahr Christ ist.

Zum Mittagessen treffen sich alle in der Mensa. Am Tisch mit vier chinesischen Geistlichen wird das Hohe Lied der Drei-Selbst-Bewegung gesungen. In deren Rahmen gäbe es alle Freiheiten. Die Bedeutung der Hauskirchen wiederum werde überschätzt. Meist würden sie aus rein praktischen Gründen besucht, weil eine offizielle Registrierung als Kirche schwierig und an diverse Kriterien gebunden sei. Mit Untergrund und Opposition habe das wenig zu tun.

Revolutionäre Prozesse und abwegige Fragen

Ted Zimmerman unterrichtet seit 20 Jahren am LTS. Als Kind von amerikanischen Missionaren wurde er in Peking geboren, in Hongkong wuchs er auf. Der Neutestamentler spricht fließend Chinesisch. Detailliert schildert er die wechselhafte Entwicklung des Christentums in China in den vergangenen Jahren, die Nervosität der kommunistischen Machthaber, ihren Versuch, durch sukzessive Gewährung von Freiheiten – im Rahmen der Drei-Selbst-Bewegung und Patriotischen Vereinigung – die Kontrolle über die spirituelle Dynamik nicht zu verlieren. Spannend sei der Prozess, sagt Zimmerman, „und revolutionär“.

Wie er das meine? „Jede Regierung will das letzte Wort haben, zumal eine kommunistische“, sagt er. „Deshalb sind Menschen, die auf das Wort einer anderen Macht hören und es als oberste Richtschnur ihres Handelns akzeptieren, für weltliche Autoritäten potenziell immer eine Gefahr.“

Und so drängt sich am Ende der Reise ein vager Verdacht auf: Vielleicht verstehen Chinas Kommunisten vom Christentum instinktiv mehr, als es viele Christen in Europa tun, wenn sie die Frage, ob sie in den Gottesdienst gehen sollen, vom Wetter abhängig machen. Eine solche Abwägung ist Chinas Christen nämlich völlig fremd.

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