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Der 92-jährige Nuon Chea am Freitag vor dem Sondertribunal in Phnom Penh.

© Mark Peters/AFP

Chefideologe der Roten Khmer: Hausbesuch bei einem Massenmörder

"Ich habe davon nichts gewusst", sagte Nuon Chea über die Gräuel der Roten Khmer. Jetzt wurde er wegen Völkermords verurteilt. Eine Begegnung aus dem Jahr 2007.

Es gilt als historisches Urteil: Unter der Schreckensherrschaft der Roten Khmer fand zwischen 1975 bis 1979 ein Viertel der kambodschanischen Bevölkerung den Tod. Ihr Anführer Pol Pot starb 1998, ohne dass er sich jemals verantworten musste. Gegen zwei seiner Schergen aber erging am Freitag zum ersten Mal ein Richterspruch wegen Völkermordes: Der einstige Chefideologe Nuon Chea, heute 92 Jahre alt, und Ex-Staatschef Khieu Samphan, 87, wurden zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Vier Jahre zuvor waren sie schon wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen worden.

Der heutige Leiter unseres Hauptstadtbüros, Stephan Haselberger, hat Nuon Chea im Jahr 2007 getroffen und mit seiner Verantwortung für Massenhinrichtungen, Deportationen, Zwangsarbeit und Hungersnot konfrontiert. Lesen Sie hier einen Auszug aus seiner Reportage von damals und den Wortwechsel mit dem Massenmörder.

Nuon Cheas verwittertes Holzhaus steht auf einer Wiese in der Nähe des Dorfes Pruhm. Es ist ein bescheidenes, aber idyllisches Heim, abseits der Spielcasinos und Bordelle im Dorf, die Geschäftsleute aus Phnom Penh hochgezogen haben, um Zocker aus Thailand anzulocken. Vor dem Haus hat Nuon Cheas Frau Obstbäume und Blumen gepflanzt. Auf dem kleinen Balkon stehen Kakteen. Junge Katzen und Hunde spielen vor der Tür, ein Kinderfahrrad zeugt von regelmäßigem Besuch der Enkel.

An seiner Rückseite wird das gepflegte Grundstück von einem Bambushain und einem Bach begrenzt. Dahinter liegt Thailand. Zu Kriegszeiten war es sehr praktisch, im Notfall binnen Minuten zu Fuß in das Nachbarland flüchten zu können. Fast alle Khmer- Rouge-Führer hatten ihre Häuser deshalb direkt an die Grenze gebaut.

Der Hausherr erwartet die Besucher im Wohnzimmer. Nuon Chea trägt einen Kapuzenpullover der Marke „Champion“ über seinem Sarong, ein alter Mann, gebrechlich, fast zart wirkend. Er legt seine Hände zur traditionellen Begrüßung zusammen, „sampeah“ genannt. Hände, die früher mit einem Federstrich über Tod oder Leben entschieden und fast immer den Tod wählten, Hände, die heute den Enkelkindern liebevoll über den Kopf streichen. Nuon Chea ist jetzt 80 oder 82 Jahre alt, je nachdem, wen man fragt, und er hat bisher keine nennenswerten Anzeichen von Reue erkennen lassen. Wahrscheinlich würde er alles wieder so machen.

Er deutet auf einen Tisch mit vier Stühlen. Dem Ratschlag seines Assistenten Lina folgend, wird erst über Gesundheit und Familie gesprochen, um die Atmosphäre zu lockern. Man erfährt auf diese Weise, dass Nuon Chea elf Enkel hat, dass ihm sein Bluthochdruck schwer zu schaffen macht, dass er jüngeren Besuchern die Ratschläge eines wohlmeinenden Großvaters erteilt: „Ich sage ihnen, sie sollen gut für ihre Familie sorgen, nicht trinken und nicht spielen.“

Nuon Chea, unter den Khmer Rouge kamen rund 1,7 Millionen Menschen ums Leben. Übernehmen Sie die Verantwortung für Massenhinrichtungen, Deportationen, Zwangsarbeit und Hungersnot?

Sein Assistent schaut ein wenig nervös, aber Nuon Chea bleibt ganz ruhig. „Ich habe keine genauen Zahlen über Leben und Tod, aber ich frage Sie: Wie viele Menschen sind durch das von den USA unterstützte Lon-Nol-Regime gestorben? Und wie viele beim Einmarsch der Vietnamesen in Kambodscha? Haben Sie diese Opfer berücksichtigt, wenn Sie von 1,7 Millionen Toten sprechen? Wir hätten doch keinen Erfolg in unserem fünfjährigen Kampf gegen die Amerikaner gehabt, wenn wir unsere Bevölkerung getötet hätten.“

Habe ich Sie richtig verstanden: Es gab keine Massenmorde unter den Khmer Rouge?

„Das kann es in manchen Fällen gegeben haben. Aber nicht wir haben unsere Bevölkerung getötet, sondern unsere Feinde.“

Wer sollen diese Feinde gewesen sein?

„Das waren ausländische Geheimdienstagenten, die sich in unseren Dörfern versteckt haben.“

Das müssten sehr viele Agenten gewesen sein. Wie viele, was glauben Sie?

„Das kann ich nicht schätzen.“

Seine Augen lachen nicht mit

Nuon Cheas Blick ist auf den Übersetzer gerichtet, unterm Tisch wippt er ungeduldig mit den Füßen. Er wirkt konzentriert, manchmal stößt er so etwas wie ein Lachen aus. Es klingt hell und meckernd, als amüsierten ihn Fragen und Fragesteller. Aber seine Augen lachen nicht mit.

In Kambodscha hat man nach der Herrschaft der Khmer Rouge zwanzigtausend Massengräber entdeckt. Wie konnte Ihnen als Bruder Nummer zwei verborgen bleiben, was da vor sich ging?

„20.000 Massengräber? Diese Zahl kann ich nicht akzeptieren! Wenn jetzt Fotos gezeigt werden mit Schädeln, heißt das gar nichts. Das lässt sich mit moderner Technik leicht manipulieren. Da werden Schädel vietnamesischer oder amerikanischer Soldaten aufgestellt und fotografiert. Das heißt nicht, dass ich keine Verantwortung übernehmen will. Aber meine Partei wurde aus der Bevölkerung heraus gegründet. Warum hätten wir also unsere eigene Bevölkerung töten sollen? Dafür gab es keinen Grund.“

Dann lassen Sie uns über Tuol Sleng reden, das geheime Foltergefängnis S 21.

„Ich wusste damals nicht, dass es ein Gefängnis mit diesem Namen gab. Ich habe erst nach der Invasion der Vietnamesen davon gehört.“

Es gibt Dokumente, die belegen, dass Sie über das Morden in Tuol Sleng zumindest informiert waren.

„Ich habe davon nichts gewusst. Ich habe nie von Tuol Sleng gehört. Wenn es solche Dokumente gäbe, dann wären sie manipuliert. Das macht man, um die Schuld auf das Demokratische Kampuchea zu schieben. So etwas ist nicht schwer.“

Wie kann es sein, dass Ihnen als Bruder Nummer zwei die Existenz eines so großen Gefängnisses direkt vor Ihrer Nase entgangen ist?

„Es gab zu der Zeit kein S 21. Wenn es das gegeben hätte, hätte man mir davon berichtet. Ich habe aber nie davon gehört.“

Nuon Chea wirkt jetzt nicht mehr alt und gebrechlich, nur noch hart. Es ist, als berühre ihn das alles nicht, als perlten Fakten und Vorwürfe an ihm ab wie an einem gut imprägnierten Regenmantel.

Sie erinnern sich aber an den Genossen Deuch, den früheren Gefängnischef, oder?

„Herr Deuch hat damals für das Ministerium für Verteidigung und Innere Sicherheit gearbeitet. Son Sen war für das Ministerium verantwortlich, nicht ich.“

Deuch sagt unter anderem, Sie hätten ihm 1978 befohlen, 300 Khmer-Rouge-Soldaten ohne vorheriges Verhör umzubringen.

„Davon weiß ich überhaupt nichts. Ich war nicht für die Innere Sicherheit verantwortlich und hätte gar kein Recht gehabt, mich einzumischen oder gar Befehle zu erteilen. Wir haben damals strikt nach dem Prinzip der Aufgabenteilung gearbeitet. Herr Deuch hat viel Schuld auf mich geschoben. Ich war damals ein hoher Politiker, ich habe Teile unserer Politik zu verantworten. Aber es gibt Grenzen der Verantwortung. Für die Innere Sicherheit war die Militärkommission zuständig.“

Also hat diese Kommission die Massentötungen zu verantworten?

„Ob getötet wurde oder nicht, weiß ich nicht. Es kann Tötungen gegeben haben. Aber Massenmord? Einige haben gegen unsere Partei gearbeitet. Und dann hat man das gelöst.“

Gab es nun Massenmorde oder nicht?

„Vielleicht hat es die Massentötungen gegeben. Wir haben aber nichts davon gewusst. Das ist der Punkt, für den wir verantwortlich sind. Unser Fehler war, dass wir uns nicht direkt vor Ort um die Bevölkerung gekümmert haben. Darin liegt unsere eigentliche Verantwortung.“

Das heißt, wenn es Massenmorde gegeben hat, dann haben sie sich ohne Wissen der Parteiführung ereignet, außerhalb ihrer Kontrolle?

„Wenn es das gegeben hat, war es unabsichtlich. Die Parteispitze hat gekämpft, wir haben unser Leben für das Land gegeben. Wir brauchten Arbeitskräfte. Die hätten wir verloren, wenn wir die Bevölkerung hätten töten lassen. Aber ich möchte darüber jetzt nicht mehr sagen. Wenn ich vor Gericht gestellt werde, werde ich aussagen.“

Rechnen Sie damit?

Nuon Chea stößt wieder ein Lachen hervor.

„Ja, vielleicht. Das Gericht macht sich Gedanken über mich, weil ich Bruder Nummer 2 genannt wurde. Das ist kein Problem. Wenn ich geladen werde, werde ich hingehen und aussagen, was war.“

Bedauern Sie das unsägliche Leid, das Ihr Regime über das Land gebracht hat?

„Ich mache mir Gedanken über das, was fehlt in meinem Land. Aber wissen Sie: Ich habe immer eng mit der Bevölkerung gelebt. Ich habe bei der Revolution mitgemacht, um etwas für mein Land zu tun. Grundsätzlich denke ich mehr über die Zukunft als über die Vergangenheit nach.“

Wenn Ihre Enkel Sie eine Tages fragen, warum Ihr Regime so viel Leid über Kambodscha gebracht hat, was werden Sie Ihnen sagen?

„Ich werde ihnen sagen, sie sollen sich ihre eigene Meinung bilden.“

Sie haben während dieses Gesprächs oft gelacht. Sind Sie ein fröhlicher Mensch?

Nuon Chea lacht.

„Ich lebe wie ein normaler Mensch. Es ist wie in jedem Leben. Manchmal ist man fröhlich und manchmal nicht. Ich mache mir keine großen Sorgen. Ich bleibe ganz normal.“

Das Gespräch ist zu Ende. Nuon Chea lässt sich von seinem Assistenten zu einem Sessel führen. Er wirkt jetzt wieder sehr gebrechlich, ein Greis, der seine Ruhe haben will. Aber es ist in diesem Moment nicht zu erkennen, ob er wirklich so hinfällig ist, oder ob er den Hinfälligen nur spielt, um sich dem drohenden Gerichtsverfahren im Ernstfall über den Notausgang der Verhandlungsunfähigkeit zu entziehen.

Noch Stunden später, das Haus von Nuon Chea ist längst aus dem Rückspiegel verschwunden, klingen seine Worte nach wie in einer Endlosschleife.

Nie davon gehört.

Nichts davon gewusst.

Prinzip der Arbeitsteilung.

Grenzen der Verantwortung.

Es ist immer dasselbe elende Vokabular, weltweit – von Josef Mengele bis zu Nicolae Ceausescu, von Saddam Hussein bis zu Augusto Pinochet. Als gebe es eine eigene Sprache entmachteter Diktatoren und Menschenschinder, mit der die Opfer im Nachhinein verhöhnt werden.

Der vollständige Text ist im Jahr 2007 im "Greenpeace Magazin" erschienen und hier online abrufbar.

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