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Ziemlich allein mit dem Urteil: Andreas Voßkuhle, Vorsitzender des Zweiten Senats beim Bundesverfassungsgericht, spricht während der Urteilsverkündung des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu milliardenschweren Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank (EZB).

© Sebastian Gollnow/dpa

Bundesverfassungsgerichtsurteil zur EZB: Entscheidung gesucht, Konflikt gefunden

Die Frage, welches Gericht in Europa das letzte Wort hat, lässt sich nicht beantworten. Das war nicht schlimm - bis jetzt, meint der Europarechtler Alexander Thiele.

PD Dr. Alexander Thiele ist Privatdozent für Öffentliches und Europäisches Recht an der Universität Göttingen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) hat nicht nur in Deutschland, sondern europaweit Wellen geschlagen. Überall wird das Urteil diskutiert und nicht selten scharf kritisiert – sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft. Sogar einzelne Richter anderer Höchstgerichte melden sich zu Wort und nehmen dabei kein Blatt vor den Mund. Die öffentlich geäußerte Kritik fiel so heftig aus, dass sich der federführende Richter am Bundesverfassungsgericht, Peter Michael Huber, genötigt sah, die Entscheidung in überregionalen Interviews zu erklären und zu rechtfertigen. Ein wohl einzigartiger Vorgang in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts. Auch Andreas Voßkuhle, der scheidende Präsident, äußerte sich einem Interview. Warum aber stößt das Urteil auf so viel Widerstand? Was ist hier eigentlich passiert?

Die Auseinandersetzung zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH zieht sich schon seit den 60er Jahren hin

Dem Urteil geht eine bereits seit den 60er Jahren geführte Auseinandersetzung zwischen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) auf der einen und dem Bundesverfassungsgericht auf der anderen Seite voraus. Hintergrund des Konflikts bildet die Frage nach dem letzten Wort bei der Interpretation des europäischen Rechts. Während der EuGH dieses letzte Wort für sich reklamiert und damit zugleich einen unbedingten Vorrang des europäischen vor nationalem Recht beansprucht, geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass dieser Vorrang zwar prinzipiell, aber nicht grenzenlos gilt. Vielmehr kann er nur unter bestimmten Voraussetzungen akzeptiert werden – Voraussetzungen, deren Vorliegen allein das Bundesverfassungsgericht prüft.

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Wer Recht hat? Beide!

Wer hat Recht? Die Antwort dürfte überraschen: Beide Ansichten sind richtig, entscheidend ist allein die Perspektive.

Aus der Sicht des EuGH muss das Europarecht einen unbedingten Vorrang vor nationalem Recht genießen. Die Europäische Union versteht sich als eigenständige Rechtsgemeinschaft und eine solche kann nur existieren, wenn es nur eine Instanz gibt, die abschließend und exklusiv über den Inhalt des europäischen Rechts entscheidet. Könnten Gerichte der Mitgliedstaaten über die Geltung des Unionsrechts urteilen, entstünde ein Flickenteppich. Das wäre zugleich das Ende der Rechtsgemeinschaft in ihrer bisherigen Form.

Die EU ist kein Staat, das stimmt. Aber ohne gemeinsames höchstes Gericht funktioniert sie auch nicht

Anders ist das hingegen aus der Perspektive des Bundesverfassungsgerichts. Solange die Europäische Union die Schwelle zur Staatlichkeit nicht überschritten hat, findet sie allein in den Verfassungen der Mitgliedstaaten ihre Grundlage. Es ist dann selbstverständlich, dass diese Verfassungen auch Bedingungen für die Beteiligung an der EU formulieren können. In Deutschland listet Art. 23 Abs. 1 GG solche Bedingungen auf. Und über die Einhaltung dieser Bedingungen kann natürlich nur das nationale Verfassungsgericht abschließend befinden.

Diese beiden Sichtweisen sind ebenso nachvollziehbar wie miteinander unversöhnlich. Aber muss das nicht eindeutig geklärt werden? Muss man nicht wissen, wer das letzte Wort hat? Nein, muss man nicht. Diese Frage kann vielmehr für die Praxis – so wie das bisher auch der Fall war – formal offengelassen werden. Sie kann beim gegenwärtigen Stand der europäischen Integration auch gar nicht abschließend beantwortet werden: Beide Seiten haben ebenso Recht wie Unrecht, oder anders: Mit dem Vorrang des Europarechts verhält es sich wie mit Schrödingers Katze – er gilt und gilt nicht zugleich.

Beide Seiten brauchen Ambiguitätstolerenz

Um diesen Konflikt nicht eskalieren zu lassen, bedarf es damit auf beiden Seiten der notwendigen Ambiguitätstoleranz und -verantwortung. Was heißt das? Beide Seiten müssen die Berechtigung der jeweils anderen Perspektive ebenso anerkennen, wie den Umstand, dass keine Seite von der eigenen Ansicht abrücken kann. Das aber bedeutet: Keine Seite darf ohne Not versuchen, den Konflikt in seinem Sinne abschließend zu lösen. Es geht darum, miteinander zu kooperieren ohne zu insistieren.

Allerdings, so ließe sich einwenden: Wenn das Bundesverfassungsgericht absolute Grenzen für den Vorrang kennt, dann ist es nicht ausgeschlossen, dass diese Grenzen auch einmal überschritten werden. Dann muss das Gericht einschreiten, ob es will oder nicht. Es ist dies auch die Argumentation der meisten Befürworter des Urteils. Und in der Tat: Sollen die Vorbehalte nicht leerlaufen, lässt sich nicht von vornherein ausschließen, dass sie auch einmal aktiviert werden. Wo die Unionsorgane und der EuGH willkürlich und nicht mehr nachvollziehbar handeln, kann das Bundesverfassungsgericht nicht anders, als eben doch einzuschreiten.

Allerdings: Gerade weil ein solches Einschreiten letztlich das Fundament der europäischen Rechtsgemeinschaft in Frage stellt – Polen und Ungarn haben schon entsprechend reagiert –, muss man erwarten, dass es nur in völlig eindeutigen Fällen erfolgt. Und damit sind wir beim eigentlichen Kern der Kritik: Aus meiner Sicht bot dieser konkrete Fall keinerlei Anlass, dem EuGH und der EZB die Gefolgschaft zu verweigern. Warum?

Das Bundesverfassungsgericht hat mehr Probleme geschaffen als gelöst - auch für die EZB

Das Bundesverfassungsgericht betont selbst, dass das Zücken der Vorbehalte von sehr strengen Voraussetzungen abhängt. Um der Bindung des vorangehenden Urteils des EuGH zu entgehen, ist es daher erforderlich, dass dieses aus methodischer Sicht als nicht mehr vertretbar, ja als willkürlich angesehen werden muss. Das ist gegenüber einem anderen, mit 15 anerkannten RichterInnen besetzten Höchstgericht zwangsläufig ein sehr scharfer Vorwurf. Dass er hier gleichwohl berechtigt sein soll, überrascht denn auch. Denn natürlich ist das Urteil des EuGH zuvor bereits in der Rechtswissenschaft analysiert und kritisiert worden. Den scharfen Vorwurf der Willkürlichkeit findet man dort nicht.

Zwar gab es gerade in Deutschland einige ablehnende Stimmen. Doch niemand ging soweit, dem EuGH methodische Unfähigkeit zu unterstellen. Liest man das Urteil des EuGH noch einmal nach, so wird man auch kaum behaupten können, dass der Gerichtshof sich mit dem Vorgehen der EZB nicht ausreichend auseinandergesetzt hat. Was die „Kontrolldichte“ angeht, also die Frage, wie stark die EZB kontrolliert werden sollte, wählt der Gerichtshof einen eher zurückhaltenden Weg. Dieser ist aber in den Besonderheiten des geldpolitischen Mandats und der unabhängigen Stellung der EZB begründet. Gerichte tun sich hier mit der Kontrolle generell schwer. Aber lässt sich wirklich bei einem Urteil, dass die Frage der Verhältnismäßigkeit in 29 Randnummern prüft, vorwerfen, das völlig unzulänglich zu behandeln, wie es das Bundesverfassungsgericht tut?

Dem politischen Lobbyismus könnten Tür und Tor geöffnet werden

Das höchste deutsche Gericht wirft dem EuGH nicht zuletzt vor, die Auswirkungen der EZB-Programme auf die Wirtschaft nicht hinreichend hinterfragt zu haben. Allerdings: Gerade für diese Zurückhaltung gibt es gute Gründe. Denn eine Zentralbank soll allein die Preisstabilität im Blick haben und diese gewissermaßen ohne Rücksicht auf Verluste anstreben. Wenn sie nun dazu angehalten wird, bei zu großen wirtschaftspolitischen Verwerfungen von notwendigen Interventionen abzusehen, kommt sie schnell in Teufels Küche: Welche wirtschaftlichen Auswirkungen sollen hinnehmbar sein? Meist gibt es da Gewinner und Verlierer. Auf wessen Seite soll sich die EZB stellen? Und zudem: Welche konkreten Auswirkungen die Geldpolitik hat, ist – anders als das Bundesverfassungsgericht suggeriert – nicht eindeutig festzustellen.

Dem politischen Lobbyismus wäre die Tür geöffnet: Regierungen können der EZB vorhalten, dass anvisierte Maßnahmen allzu starke wirtschaftliche Auswirkungen haben. Bisher konnte die EZB auf ihre Unabhängigkeit verweisen. Nun müsste sie sich dazu verhalten. Andernfalls drohte ihr ein erneuter Ultra-vires-Vorwurf. Die Lage und die Auswirkungen sind also komplex. Dem EuGH vor diesem Hintergrund vorzuwerfen, zurückhaltend zu urteilen, ist fragwürdig.

Das Bundesverfassungsgericht hat den Konflikt ohne Not eskalieren lassen

Es mag andere Urteile des EuGH geben, die methodisch möglicherweise fragwürdig sind. Dieses Urteil zum Handeln der EZB verdient diesen Vorwurf hingegen nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat den oben beschriebenen Konflikt ohne Not eskalieren lassen. Das ganze System wird ja gerade dadurch stabilisiert, dass niemand den Absolutheitsanspruch formal und offensiv einfordert.

Weil nun aber das Bundesverfassungsgericht seine Karten auf den Tisch gelegt hat, müssen das auch die anderen Akteure tun und zwar entsprechend ihrer jeweiligen Perspektive: EuGH, EZB und Kommission müssen also offensiv den unbedingten Vorrang verteidigen. Bundesregierung und Bundestag stehen etwas ratlos zwischen den Stühlen: Sie können entweder ihre Unions- oder ihre Grundgesetztreue betonen, müssen aber einer Seite zwangsläufig den Rücken zukehren. Und es ist nur eine Frage der Zeit bis polnische und ungarische Gerichte ähnliche Urteile fällen werden. Wenn der Kompetenz-Vorbehalt demnächst zur Regel wird, könnte das das Ende der bisherigen EU als Rechtsgemeinschaft sein. Das wäre dann eine Verantwortung, die das Bundesverfassungsgericht gewiss überfordern würde.

Alexander Thiele

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