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Bei namentlichen Abstimmungen ist es immer eng im Bundestag.

© imago/Christian Thiel

Bundestagswahl 2017: Wie viele Abgeordnete verträgt das Parlament?

Dem nächsten Bundestag könnten deutlich mehr Abgeordnete als bisher angehören. Parlamentspräsident Norbert Lammert will das vermeiden. Muss das Wahlrecht geändert werden?

Eigentlich ist es zu spät. Eigentlich geht nichts mehr. Ein knappes Jahr vor der Bundestagswahl das Wahlrecht zu ändern – das ist kaum noch möglich. Aber Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), der nach 37 Jahren dem nächsten Parlament nicht mehr angehören wird, will doch noch einen Anlauf machen. Er will sich wohl nicht verabschieden, ohne nochmals Druck zu machen. Damit es in den Geschichtsbüchern nicht heißt: Lammert hat beim Wahlrecht nichts bewegt.

Das Problem sind die Überhangmandate und deren Ausgleich. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland über die Erststimmen mehr Direktmandate erhält, als ihr nach dem (für den Parteienproporz entscheidenden) Zweitstimmenergebnis insgesamt an Sitzen zusteht. Damit aber wird der reine Parteienproporz verzerrt, weil Überhangmandate immer erhalten bleiben. Das Problem hielt sich über Jahrzehnte in Grenzen, aber mit den Veränderungen im Parteiensystem und einem Spruch aus Karlsruhe hat es sich in den vergangenen Jahren verschärft.

Denn je schwächer die Parteien werden, die erfahrungsgemäß Direktmandate gewinnen, also CDU, CSU und SPD, je weniger Stimmen also genügen, um den Wahlkreis zu gewinnen, je größer wird potenziell die Zahl der Überhangmandate. Und schwächer werden Christdemokraten und Sozialdemokraten, die noch in den 70er Jahren planetengleich die Szene allein beherrschten (mit dem kleinen Trabantenmond namens FDP), weil andere Parteien ihnen die Stimmen zunehmend streitig machen: erst die Grünen, dann die PDS/Linkspartei, nunmehr auch die AfD und gelegentlich weiterhin die Freidemokraten.

Überhang- und Ausgleichsmandate

2008 kam es dann zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach Überhangmandate nur begrenzt zu akzeptieren sind, worauf der Bundestag beschloss, zu deren Neutralisierung (und damit zum Erreichen des reinen Parteienproporzes) Ausgleichsmandate zu schaffen. Daher hat der aktuelle Bundestag über seine Mindestgröße von 598 Abgeordneten hinaus vier Überhangmandate der CDU (entstanden in Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt und im Saarland) und 29 Ausgleichsmandate. Macht zusammen 631 Abgeordnete. Gibt es bei der Wahl im kommenden September noch mehr Überhangmandate der CDU, dann wird der Bundestag entsprechend größer sein.

Ein den üblichen Rahmen sprengendes Mammutparlament wäre er damit aber nicht – das britische Unterhaus hat 650 Sitze, in Italien hat die Abgeordnetenkammer 630 Mitglieder, die französische Nationalversammlung kommt auf 577 Sitze, in Polen hat der Sejm 460 Abgeordnete. Und diese Staaten haben weniger Einwohner als Deutschland, Polen etwa die Hälfte. Man könnte einwenden, dass es bei uns auch die Landtage gibt - aber die sind als Gesetzgeber zugunsten des Bundestags (und Bundesrats) stark geschwächt.

Eine Wahlrechtsreform, welche den Bundestag auf die als „Normalgröße“ gewünschten 598 Mandate reduzieren würde, hat in der laufenden Legislaturperiode nicht geklappt. Das ginge, wenn man weniger Wahlkreise mit Direktmandaten hätte (also die bisherige Aufteilung von 299 zu 299 zugunsten der Listenmandate änderte). Oder sehr große Wahlkreise schaffen würde mit jeweils mehreren Direktmandaten. Oder nur noch nach Listen wählte, in den Ländern oder auch bundesweit (dann aber mit Riesenlisten). In jedem Fall würde so allerdings die lokale Verankerung von Abgeordneten verringert.

Lammerts Vorschlag

Lammert hat im April einen Vorschlag gemacht, wie sich zumindest eine starke Vergrößerung vermeiden ließe. Er will die Zahl der Mandate auf etwa 630 begrenzen. Das sieht er durch das Verfassungsgerichtsurteil von 2008 gedeckt. Es würden also Überhangmandate nur noch ausgeglichen, bis die Höchstzahl erreicht ist.

Darauf aber wollten sich die anderen Fraktionen nicht einlassen. Die SPD will zwar eine Reform, aber glaubte schon im Frühjahr nicht, dass es noch reichen könnte. Linke und Grüne wiesen den Vorschlag zurück, weil damit der Parteienproporz wieder verzerrt werden könnte. Und allen drei Fraktionen missfiel, dass voraussichtlich vor allem die Union bessergestellt würde – also über dem reinen Zweitstimmenergebnis liegen würde. Bei knappen Mehrheiten kann das für eine Regierungsbildung entscheidend sein.

Nun will Lammert offenbar nochmals einen Versuch starten. Die Befürchtungen, dass es am Ende ein Parlament mit weit mehr als 700 Abgeordneten sein könnte, sind zuletzt gewachsen. Die CDU bleibt in den Umfragen deutlich unter ihrem Ergebnis von 41,5 Prozent bei der Wahl 2013. Und die SPD hängt weiter um die 23 Prozent, gegenüber 25,7 Prozent bei der vorigen Wahl. Das dürfte bedeuten, dass die Zahl der Überhangmandate wächst und damit auch die Zahl der Ausgleichsmandate.

Lammert, der als Parlamentspräsident auch ganz alltägliche Probleme eines großen Apparats auf dem Tisch hat, schaut auf die Folgen: deutlich mehr Abgeordnete sind in neuen Büros unterzubringen, es braucht deutlich mehr Mit- und Zuarbeiter, der Verwaltungsaufwand wächst. Auch arbeitsökonomisch ist die hohe Zahl ein Problem: Kein Abgeordneter will als schweigender Hinterbänkler vor seine Wähler treten, sondern zumindest auf einem Feld als „Spezialist“ wahrgenommen werden, sich breiter profilieren, in der Fraktionshierarchie eine Rolle spielen. Aber ist die Themenfülle des Bundestags breit genug dafür?

Wer bekommt Direktmandate?

Andererseits haben die Landtagswahlen zuletzt keine Aufblähung der Parlamente ergeben. Freilich lag das auch daran, dass in Baden-.Württemberg die Grünen erstmals mehrere Direktmandat errangen, in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern aber die AfD. Das hat gewissermaßen einen dämpfenden Effekt auf das Zustandekommen von Überhangmandaten gehabt. Aber wird das auch bei einer Bundestagswahl so sein?

Bleibt es bei den in Umfragen ablesbaren Parteistärken, ist die Aufblähung allerdings weniger stark als vielfach angenommen. Für den Tagesspiegel hat der Politologe Joachim Behnke von der Zeppelin-Universität Friedrichshafen im Frühjahr ein Ergebnis berechnet, bei ähnlichen demoskopischen Werten wie heute. Er kam damals (die Union wurde mit 35 Prozent angenommen, die SPD mit 22 Prozent) auf 29 Überhangmandate, davon 26 für die CDU und drei für die CSU. Die Zahl kann freilich schon bei geringen Veränderungen in den Wahlkreisen höher oder auch niedriger liegen, ist also nicht mehr als eine Durchschnittsschätzung. Mit den nötigen Ausgleichsmandaten kam er auf eine Bundestagsgröße zwischen 661 und 687 Abgeordneten.

Die Horrorzahlen von 750 Abgeordneten oder mehr entstehen nach bisherigem Ermessen nur, wenn die CSU in Bayern (das Land hat mehrere wahlsystematischen Besonderheiten) einbricht und unter 40 Prozent abschneidet. Das würde, weil der Überhang einer Partei, die nur in einem Land antritt, bundesweit ausgeglichen werden müsste, zu einer sehr hohen Zahl von Zusatzmandaten führen.

Populistische Zuspitzung

Doch das Szenario ist in der Welt, von der „Bild“-Zeitung gerade erst verbreitet, und der Bund der Steuerzahler gab in der vorigen Woche eine seiner Verschwendungswarnungen heraus („Mehrkosten 70 Millionen Euro“) – begleitet von der Forderung, den Bundestag auf 500 Sitze zu verringern (macht 80 Millionen weniger - der Bundesetat liegt mehr als 300 Milliarden Euro). „Schluss mit den unsäglichen Ausgleichsmandaten“, verlangte Steuerzahler-Präsident Reiner Holznagel. Er äußerte den Verdacht, dass die „Bundestagsparteien“ eine grundlegende Wahlrechtsreform scheuten, weil sie die „lukrativen Zusatz-Mandate“ behalten wollten. Bis zu den „gierigen Altparteien“ der populistischen Rechten ist es da nicht mehr weit.

Die CSU hat sich jetzt hinter Lammerts Forderung gestellt. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Landesgruppe, Max Straubinger, sagte im Parteiorgan „Bayernkurier“: "Eine Wahlrechtsreform ist unbedingt erforderlich. Hier geht es auch um die Akzeptanz der Bevölkerung.“ Er plädierte ebenfalls für eine Deckelung, indem nicht mehr alle Überhangmandate ausgeglichen werden. Was also derzeit im Bundestag stattfindet, ist ein Schwarze-Peter-Spiel. Die Union möchte offenkundig nicht als Schuldige dastehen, wenn der Wähler tatsächlich ein sehr großes Parlament schafft. Und schon im Wahlkampf sagen können: An uns liegt es nicht.

Die Fraktionen von SPD, Grünen und Linken kommen damit unter Druck. Aber sie können darauf verweisen, dass die alleinige Profiteurin einer Deckelung eben die Union wäre. Wie zu hören ist, könnte es nochmals eine Gesprächsrunde geben. Aber ein Ergebnis ist nicht zu erwarten.

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