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Olaf Scholz (Mitte) zwischen Hendrik Wüst und Franziska Giffey.

© John MACDOUGALL / AFP

Bund und Länder einigen sich auf Kostenverteilung: Ukraine-Flüchtlinge erhalten ab 1. Juni Grundsicherung

Der Kanzler und die Länderchefs haben darüber verhandelt, wer die Kosten für die Flüchtlingsversorgung übernimmt. Nach vielen Stunden gibt es einen Kompromiss.

Olaf Scholz kennt das alles schon. Finanzverhandlungen zwischen Bund und Ländern, da könnte der ehemalige Finanzminister und heutige Kanzler Bücher darüber schreiben – wenn die Materie nicht so staubtrocken wäre. Aber dieses Mal wirft das Überlappen mehrerer, durch den Krieg Russlands hervorgerufener Krisen, auch ein Schlaglicht auf die Komplexität seiner Kanzlerschaft.

Und auf seinen eigenen Anspruch, Führung zu liefern. Das fängt innerhalb der Ampel-Koalition an und betrifft besonders das Bund-Länder-Verhältnis.

Neben seinem Satz „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“, holt ihn jetzt auch das Wort ein, das bisher mit seiner 120-tägigen Kanzlerschaft verbunden wird: die "Zeitenwende". Ob dies denn nicht auch für die Haltung des Bundes bei der Aufnahme von Menschen aus der Ukraine gelten müsse?, heißt es von Seiten der Bundesländer beim Thema Aufnahme der Flüchtenden aus der Ukraine. Sprich: Wenn es so viel um deutsche Verantwortung gehe, müsse der Bund das auch zahlen.

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Scholz selbst hat einiges zu den atmosphärischen Störungen mit den Ländern beigetragen, vor allem mit der Umsetzung der FDP-Wünsche nach einer umfassenden Lockerungspolitik in Sachen Corona. Nun verhandelten die Regierungschefs der Länder am Donnerstag das nächste große Streitthema, die Verteilung der Kosten für Hunderttausende Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.

Erst nach vielen Stunden konnten sich Bund und Länder auf einen Kompromiss einigen. Dieser sieht Folgendes vor:

  • Flüchtlinge aus der Ukraine sollen ab dem 1. Juni wie anerkannte Asylbewerber finanziell unterstützt werden. Das bedeutet, dass sie die gleichen Leistungen wie etwa Hartz-IV-Empfänger erhalten sollen. Für die Kriegsflüchtlinge hat das Vorteile: Sie erhalten höhere Leistungen und eine bessere Gesundheitsversorgung. Außerdem bekommen sie früher Unterstützung bei der Integration in den Arbeitsmarkt und haben mit den Jobcentern eine zentrale Anlaufstelle für ihre Belange.
  • Den Ländern werden nach Angaben des Kanzlers insgesamt zwei Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. 500 Millionen davon sollen an die Kommunen gehen für Unterkunftskosten.

„Dieser Krieg muss sofort beendet werden. Es muss ein Waffenstillstand her, und Russland muss seine Truppen aus der Ukraine zurückziehen“, sagte Kanzler Olaf Scholz nach den Verhandlungen. Es gebe dramatische und furchtbare Zerstörungen in der Ukraine. Bei den kriegerischen Handlungen komme es zu Kriegsverbrechen, die nicht toleriert werden könnten und für die die Verantwortlichen noch zur Rechenschaft gezogen würden.

Millionen Menschen seien in und aus der Ukraine auf der Flucht. Putin zerstöre nicht nur die Ukraine, „sondern auch die Zukunft des eigenen Landes“.

Vor dem Ukraine-Gipfel hatte fünf Mal eine entsprechende Arbeitsgruppe von Bund und Ländern unter Leitung von Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD) getagt.

Und eine, so ist zu hören, war besonders erzürnt über Scholz und Schmidt: Franziska Giffey (SPD). Sie sei in den Verhandlungen mitunter „auf 180“ gewesen, wird über Berlins Regierende Bürgermeisterin kolportiert. Das einträchtige Sitzen auf dem Podium im Kanzleramt nach einer Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Kanzler ist das eine, das Feilschen hinter verschlossenen Türen das andere. Denn es geht hier um Milliarden.

Menschen warten in der Anlaufstelle für Flüchtlinge aus der Ukraine auf dem Hauptbahnhof Berlin.
Menschen warten in der Anlaufstelle für Flüchtlinge aus der Ukraine auf dem Hauptbahnhof Berlin.

© Hannibal Hanschke/dpa

Giffey hätte gern, dass der Bund den größten Batzen zahlt

Und so ging es in Erwartung einer sehr langen Sitzung am Donnerstagnachmittag in ein hartes Ringen beim Ukraine-Gipfel von Bund und Ländern mit Scholz und Giffey im Kanzleramt. Vor allem zwei Variablen machten alles so kompliziert: Wie viele Flüchtlinge kommen noch und wie lange bleiben sie? Bei den Bildern zerbombter Städte, bei zigtausenden Toten, ist kaum damit zu rechnen, dass es um Monate im Exil geht – eher um Jahre.

Für Scholz unangenehm ist, dass die Unions-Seite mit Giffey den Schulterschluss gegen den Bund sucht. Die resolute Genossin gegen den stets ruhig bleibenden Kanzler, auch das ist ein Duell dieser Tage.

Etwas irritiert wird von Regierungsseite betont, dass man sich vom Land Berlin habe Zahlen vorlegen lassen: Pro Schule sei zum Beispiel eine Zahl von bisher 0,2 ukrainischen Schülern genannt worden.

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Ob es jetzt dafür neue Klassen und Lehrer brauche? Die Gegenseite argumentiert: Alles nur eine Momentaufnahme. Stimmen die deutschen Geheimdiensterkenntnisse, dann könnten sich die Flüchtlingszahlen noch gewaltig erhöhen. „Das ist jetzt ein anderer Krieg“, betonen sie in der Regierung.

Aus Berliner Senatskreisen ist zu hören, dass sich Giffey – die zugleich auch stellvertretende Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) ist – vehement für die Durchsetzung der Interessen Berlins einsetzt.

Sie stimme sich dabei eng mit der von Daniel Wesener (Grüne) geführten Finanzverwaltung ab. Sie selbst hatte mehrfach auf den sogenannten Wechsel von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz hin zur Grundsicherung für die Kriegsflüchtlinge gepocht. Denn die Kosten für die Grundsicherung, also Leistungen auf Hartz-IV-Niveau, übernimmt der Bund.

Die Länder lege eine Rechnung vor: 1400 Euro je Kriegsflüchtling im Monat

In der Bund-Länder-Arbeitsgruppe hatten Unions- und SPD-Länder Kanzleramtschef Schmidt folgende Rechnung präsentiert: Die Kosten für eine geflüchtete Person lägen im Bundesschnitt bei 1400 Euro – mit Wohnungskosten, Sozialleistungen, Kosten für die medizinische Versorgung, Verpflegung, für Schulen, Kitas und die psychologische Betreuung gerade vom Krieg traumatisierten Kinder.

Nimmt man eine Zahl von rund 300.000 Kriegsflüchtlingen in Deutschland, landet man bei 420 Millionen Euro im Monat. Die Geflüchteten sollen nun, wie auch von Giffey gefordert, Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II bekommen, also den Hartz-IV-Regelsatz von 449 Euro. Das ist bereits ein deutliches Entgegenkommen des Bundes.

Milliarden-Wunschliste

Aber die Beschlussvorlage für den Ukraine-Gipfel im Kanzleramt las sich offenbar wie eine etwas einseitige Wunschliste der Länder: „Der Bund übernimmt weiterhin 100 Prozent der Kosten der Unterkunft für alle Geflüchteten, die Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch beziehen“, stand in der Vorlage, die dem Tagesspiegel vorlag.

Für die Aufwendungen der Länder und Kommunen, die ihnen bis zum Zugang der Geflüchteten zu Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch entstanden sind, solle der Bund bis zu eine Milliarde Euro bereit stellen. Und als Integrationspauschale seien vom Bund pro 10.000 Geflüchteten aus der Ukraine zwischen zwölf und 75 Millionen Euro im Jahr zu zahlen.

Lindner fragt: Und wo ist jetzt der Anteil der Länder bei den Kosten?

In diesem Feilschen stellte Finanzminister Christian Lindner (FDP) intern folgende Frage: Man rede hier über eine anteilige Verteilung der Kosten, was denn anteilig sei an den Vorschlägen der Länder? „Im Grunde fordern sie, dass der Bund alle Kosten übernimmt“, hieß es auch aus dem Kanzleramt genervt im Vorfeld der Verhandlungen.

Kanzler Olaf Scholz will nicht, dass der Bund alles zahlt. Franziska Giffey beäugt ihn kritisch
Kanzler Olaf Scholz will nicht, dass der Bund alles zahlt. Franziska Giffey beäugt ihn kritisch

© 360-Berlin

Berlin als Hotspot für Ukraine-Flüchtlinge

Klar ist: Berlin steht unter besonderem Druck. Mehr als 35 Millionen Euro muss das Land laut Wesener pro Monat für die Unterbringung und Registrierung der zu Tausenden in der Stadt ankommenden Ukraine-Flüchtlinge aufbringen. Allein zehn Millionen Euro kostet der Betrieb des Ankunftszentrums in Tegel jeden Monat. Von „Momentaufnahmen“ sprach auch Wesener am Donnerstag im Abgeordnetenhaus und deutete an, dass diese – je nach Dauer und Verlauf des Krieges – noch steigen könnten. „Der Bund steht da mit in der Pflicht“, pocht Wesener auf eine „geteilte und gemeinsame Verantwortung“.

Nach Angaben der Sozialverwaltung wurden seit Kriegsausbruch rund 28.000 Geflüchtete aus der Ukraine in der Hauptstadt untergebracht. Noch immer dürfte die Dunkelziffer hoch sein, schließlich dürfen sich die Flüchtlinge 90 Tage lang visafrei bewegen und müssen sich vor Ablauf dieser Frist nicht zwangsläufig registrieren.

Die teilweise chaotischen Bilder der ersten Tage vom Berliner Hauptbahnhof gehören der Vergangenheit an, aktuell sind nach Senatsangabe rund 1500 freie Schlafplätze verfügbar. Am Mittwoch erreichten etwas mehr als 2000 Kriegsflüchtlinge die Hauptstadt. Ihre Verteilung auf andere Bundesländer oder die Weiterreise in europäische Nachbarländer läuft nun besser als zuvor.

Die Uneinigkeit der Ampel, die fehlende Führung des Kanzlers

Scholz muss sehen, dass er alle Ukraine-Fragen, auch die einer besseren und flächendeckenden Registrierung der ankommenden Menschen rasch bewältigt bekommt, denn der Krieg kann jeden Tag weiter eskalieren.

Vor dem Bund-Länder-Treffen hatte jeder bei der gescheiterten Impfpflicht im Bundestag noch einmal die Fliehkräfte und Widersprüche in der Ampel-Koalition erleben können, mit der Randnotiz, dass Scholz extra Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) von einem Nato-Treffen in Brüssel zur Abstimmung einfliegen ließ, am Ende fehlten so viele Stimmen für den Kompromiss der Impfpflicht ab 60, dass Baerbock auch hätte in Brüssel bleiben können.

Scholz hatte mal angekündigt, dass eine Impfpflicht schon ab spätestens März greifen soll.

Mit Scholz’ Führung ist es mangels Einigkeit in der Ampel so eine Sache, daher ist es für den Kanzler nun umso wichtiger, mit den Ländern einen guten Modus zu finden. Diese Achse wird es brauchen in den nächsten Monaten. Das Kanzleramt beunruhigen die Geheimdiensterkenntnisse, dass russische Streitkräfte systematisch Zivilisten von Butscha bis Mariupol ermorden – wie lange lässt sich die Regierungslinie, kein Öl- und Gasboykott noch aufrechterhalten?

Ein Hinweisschild am Kölner Hauptbahnhof weist Flüchtlingen aus der Ukraine den Weg zur zentralen Anlaufstelle für Flüchtlinge.
Ein Hinweisschild am Kölner Hauptbahnhof weist Flüchtlingen aus der Ukraine den Weg zur zentralen Anlaufstelle für Flüchtlinge.

© IMAGO/Panama Pictures

Im Kanzleramt sehen sie sich auf einem Basar - wie 2015

Mit der Boykottfrage hängt zusammen, wie tief Deutschland in eine Rezession rutschen und Steuereinnahmen wegbrechen könnten. Daher will der Bund den Ländern nicht einfach einen unbefristeten Blankoscheck ausstellen. „Das ist ein Basar, das war 2015 so, und das ist jetzt auch wieder so“, heißt es im Kanzleramt. Die Lösung wird auch darüber entscheiden, ob das Bündnis Scholz mit Giffey und den anderen SPD-Regierungschefs wieder stabiler wird - oder ob die rote Einheitsfront auch hier bröckelt.

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