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An Ausfallstraßen werden Kontrollposten errichtet.

© AFP

Bürgerkrieg in der Ukraine: Mariupol wird zur Festung

Der Ausnahmezustand als Normalität: In der südostukrainischen Stadt Mariupol ist seit Beginn des Bürgerkrieges in der Ukraine nichts mehr wie es war. Ein Bericht von einem Leben im Provisorium.

Die Hafenstadt im Südosten der Ukraine gleicht einer Festung. Drei Verteidigungsringe sollen das Eindringen fremder Truppen verhindern. An allen Ausfallstraßen sichern Soldaten an Kontrollposten. Jeder, der dort vorbei will, muss seinen Pass vorzeigen, die Fahrzeuge werden untersucht. Der Alltag in Mariupol, wo bis zum Ausbruch des Krieges fast 800.000 Menschen lebten, hat sich seit dem Frühjahr komplett verändert. Die Beschaulichkeit der Provinzstadt ist einer überall spürbaren Angespanntheit gewichen. Mehr als jeder zweite Einwohner soll seine Heimat verlassen haben.

Nikolai unterstützt die Freiwilligen-Bataillone

Nikolai will bleiben. Der 65-Jährige ist Mediziner und hat bis zu seiner Pensionierung im Städtischen Krankenhaus gearbeitet. Nun unterstützt er die NGO „Volksfront von Mariupol“. Freiwilligen-Bataillone und deren Familien werden durch die Organisation mit Sachspenden wie Kleidung, Lebensmitteln und Medikamenten versorgt. Der große, schlanke Mann führt die Bücher der NGO. Täglich bringen Menschen Spenden in das kleine Büro, das in einem Gewerbepark im Stadtzentrum untergebracht ist. „Die Firmen, die hier bis zum Sommer arbeiteten, haben ihren Dienst eingestellt. Der Besitzer des Hauses hat uns die Fläche zur Verfügung gestellt, damit das Gebäude nicht leer steht“, sagt Nikolai. Aus dem Fenster ist der Sitz der früheren Stadtverwaltung zu sehen. Dort haben sich im Mai Kämpfer der prorussischen Separatisten und die ukrainischen Streitkräfte tagelang Schusswechsel geliefert. Das Gebäude ist teilweise ausgebrannt. Aus den zerborstenen Fenstern flattern Gardinenreste. Keiner macht das Haus winterfest.

Nikolai erinnert sich an einen Abend im April. Damals, so sagt er, sei er mit Freunden zum Biertrinken in eine Kneipe gegangen. Ihm fielen mehrere Männer in Zivil auf, die von Tisch zu Tisch gingen und das Gespräch suchten. „Sie sind auch zu uns gekommen und haben uns gefragt, ob wir am nächsten Tag zu einer Demo kommen wollten. Für die Teilnahme boten sie uns Geld an.“ Einer seiner Freunde sei hingegangen. Ein Lastwagen sei zur verabredeten Zeit mit Fahnen der „Volksrepublik Donezk“ vorgefahren, die Flaggen wurden an die Demonstranten verteilt. Wenig später ging es zur Stadtverwaltung. Dort stand bereits eine Gruppe mit Mikrofonen, vom Band wurden sowjetische Armee-Märsche gespielt. „Am Abend zeigte das Lokal-Fernsehen dann Ausschnitte von dieser Veranstaltung, und es hieß, Tausende Einwohner Mariupols forderten den Austritt ihrer Region aus der Ukraine“, erinnert sich Nikolai. Wenig später wurde die Stadt von militanten Kräften besetzt, die sich als „Vertreter der Republik Donezk“ bezeichneten. Die Gruppen hätten einen enormen Druck ausgeübt. Sie seien von Geschäft zu Geschäft gezogen und hätten die Ladeneigentümer bedroht. „Sie nahmen sich, was sie brauchen konnten. Wer sich ihnen in den Weg stellte, wurde verprügelt oder verschleppt“, einige seien noch immer verschwunden, sagt Nikolai.

Die Stadt ist wie ausgestorben

Heute, ein halbes Jahr später, ist der größte Teil der Geschäfte in der Innenstadt geschlossen. Vereinzelt fallen ausgebrannte, teilweise zerschossene Ruinen auf – auch neben dem Hotel Spartak, in der Charlampiewskaya Straße, im Stadtzentrum. Dort arbeitet Lubow als Hotelangestellte. Das Spartak gehört zu den wenigen Hotels, das noch Gäste hat. Lubow erklärt unumwunden, dass sie bis zum Frühjahr für die Separatisten Sympathien gehegt habe. Als dann aber im Mai die Kämpfe und Plünderungen anfingen, hatte sie genug von der „Volksrepublik Donezk“. Jetzt wünscht sie sich jemanden, der Ordnung schafft und für Arbeit sorgt. Der russische Präsident Wladimir Putin könne so was. „Aber wir sind Ukrainer, wir sehen es an der Krim, Russland lässt dort das Geld auch nicht vom Himmel regnen.“ Sie fände es gut, wenn die Ostukraine mehr Autonomie bekäme.

Die Heizungen bleiben kalt

Das Leben in Mariupol ist schwierig geworden. Es kommt immer wieder zu Stromausfällen. Die Temperaturen fallen in der Nacht unter zehn Grad. Doch die meisten Heizungen bleiben kalt. Auf den Straßen sind auch am Tage nur wenige Autos und Busse unterwegs. Abends ist das Zentrum wie ausgestorben. Nur selten durchbrechen Auto-Scheinwerfer die Dunkelheit. Regelmäßig fahren Panzerfahrzeuge und Lkw mit Soldaten durch die Stadt. Ende dieser Woche wurde ein Kontrollpunkt der ukrainischen Streitkräfte im Ostteil Mariupols beschossen. Der Gefechtslärm war bis in die Innenstadt zu hören. Während Nikolai hofft, dass die starke Militärpräsenz eine Übernahme der Stadt verhindern kann, hat Lubow genug vom, wie sie es nennt, „Kriegszustand“. Ihrer Meinung nach wisse in Kiew niemand, was sich derzeit in der Ostukraine zusammenbraue. Es wäre schlimm, wenn sie recht hätte.

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