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Buchhandel: Wo liest du? Bei mir um die Ecke

Seit Johannes Gensfleisch Gutenberg ist das Buch hochheiliges Gut. Dann rückte ihm die Moderne an den Ledereinband. Und plötzlich erlebt es eine Renaissance im Kiez. Ein Loblied des Einzelhandels. Und eine - vorläufige Korrektur eine sechs Jahre alten Textes.

Frau Winter berät. Eine Kundin würde ihrer Freundin gerne ein Buch schenken. Die Freundin hat ihr kürzlich ein Sachbuch geschenkt. „Ich hätte gerne einen Roman“, sagt die Kundin. „Was für ein Typ ist ihre Freundin?“, fragt Frau Winter, „wie alt, mehr zeitgeschichtlich interessiert oder an Krimis oder historisch?“ Ist Frau Winter ein Algorithmus, der die Vorlieben und Gewohnheiten der User sammelt, auswertet und Kaufempfehlungen anpreist?

Frau Winter stellt vor. Michel Houellebecq: „Unterwerfung“, T. C. Boyle: „Hart auf hart“, Martin Suter, den Schweizer Bestsellerautor. Aber die sind eh gerade in aller Munde.

Frau Winter taucht ein. Taucht ein in die Welt der buchaffinen Menschen, in den Kosmos der bibliophilen Gemeinde. „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ von Michael Kohlmeier, „Ein Abend bei Claire“, Gaito Gastanow, das ist schon eher Lektüre, die nicht auf Bestsellerlisten auftaucht, gleichwohl lesenswert ist. Ein Algorithmus hat dergleichen nicht auf seiner Lösungsvorschlagsliste.

Dann sagt Frau Winter: „Lassen Sie sich Zeit, überlegen Sie in aller Ruhe, schauen Sie mal rein.“ Und wendet sich in ihrem kleinen Buchladen in der Giesebrechtstraße im Charlottenburger Kiez Berlins dem nächsten Kunden zu. Almut Winter ist Frau aus Fleisch und Blut. Und von den Kiezen Berlins und seinen Buchläden wird die Rede sein. Almut Winter hat 50 bis 60 Kunden am Tag. „Es gibt keine Seligkeit ohne Bücher“, hat Arno Schmidt mal geschrieben.

Vor ein paar Jahren klagten wir noch über den Niedergang des Buchhandels

Vor fast genau sechs Jahren war an dieser Stelle eine traurige Klage über den Niedergang des Buchhandels zu lesen. Die großen Konzerne, Hugendubel, Weltbild, Thalia waren dabei, den Einzelhandel im Buchmarkt zu erdrücken. Sie senkten das Niveau des Angebots auf Ratgeber und Kochbücher und seichte Allerweltsliteratur. Sie stellten ins Sortiment neben die Gartenbücher Gummistiefel und Saatgut. Sie strukturierten ihr Personal um von fachkundigen Buchhändlern zu Warenverkäufern, die nicht wussten, was sie verkaufen, die nicht mal ahnten, dass Johannes Gensfleisch Gutenberg mit seiner Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern das Buch zum heiligen Gut der Menschheit gemacht hat, zur Massenverbreitung von Aufklärung und Menschlichkeit, von Menschenrecht und Menschenwürde. Und Liebe. Auch von Hass, keine Frage, aber der tut dem Mythos Buch keinen Abbruch.

Zudem drohte die neue Technik, dem gedruckten Buch und dem Buchhandel den Garaus zu machen. Das E-Book drängte auf den Markt, zu lesen auf dem Tablet, das Umblättern erledigte ein Fingerwisch auf dem Display, zum Abstauben der eigenen Bibliothek war nur noch ein Tempotuch vonnöten und keine Staubwedel mehr, die durch großflächige Regale wuseln und Staub aufwirbeln. Und Vertriebshändler wie Amazon gruben den wahrhaftigen Bouquinisten die Kundschaft ab. Damals, vor fast genau sechs Jahren, sagte Julia Hacker, Mitbetreiberin von „Hacker & Presting“ in Berlins Leonhardtstraße: „Die Kunden kommen zu uns, lassen sich beraten, gehen nach Hause und bestellen das Buch bei Amazon.“

Der damalige traurige Abgesang eines Menschen, für den Buch Lebensmittel ist und der auch diese Zeilen verfasst, war wahrhaftig, berechtigt und nicht hysterisch. Aber wie man sich täuschen kann.

Ortswechsel. Die „Nicolaische Buchhandlung“ in der Rheinstraße in Berlin-Friedenau. Die gibt es seit 1713, und damit ist sie die älteste Buchhandlung Berlins. In den vergangenen Wochen wurde sie aufwendig renoviert, und dass Martina Tittler sie gerade übernommen hat, kann man mehr als ein Indiz werten, dass der Bucheinzelhandel die Attacke des Großmarktes und der Technik nicht nur überstanden, sondern abgewehrt hat. Martina Tittler war lange Geschäftsführerin des Kulturkaufhauses Dussmann, was zwar kein Großkonzern à la Hugendubel ist, aber auch kein kleiner Fisch, sondern eher Wal, der die Guppys in den Kiezen schluckt. „Na ja, geschluckt habe ich auch schon, als ich mich getraut habe, die Nicolaische zu übernehmen. Aber es lohnt sich. Der Kiezbuchladen ist im Trend, die Menschen wollen ihn, nehmen ihn an. Und was Ihre Anekdote von vor sechs Jahren über Amazon angeht: Inzwischen drucken sich die Kunden die Anzeigen bei Amazon aus, kommen zu uns und sagen ,dieses Buch will ich’ und kaufen es im Buchladen.“

Eingangs erwähnte Almut Winter erzählt auch eine Geschichte in der Croissanterie an der Ecke, wo sie mit „wie immer?“ begrüßt wird. Ihre Erinnerung: „Ich habe in meiner Kundschaft ein paar Rechtsanwälte, Autoren, Filmschaffende. Die kommen in der Mittagspause und bestellen ein Buch, das ich nicht auf Lager habe, aber das bis zum Nachmittag da ist. Aber die arbeiten bis 22 Uhr. Da habe ich dann geschlossen. Das Buch können sie dann im Nabucco abholen.“

Das „Nabucco“ ist ein italienisches Restaurant drei Häuser weiter. Was ist da los? Hat der Einzelhandel im Kiez die Moderne überwunden? Dass Berlin mit seiner Kiezstruktur ein Konglomerat aus Dörfern ist, ist bekannt. Aber dass der Mensch augenscheinlich doch mehr ist und möchte als die Summe der technischen Möglichkeiten, ist eine sehr tröstliche Erkenntnis im Hightech-Jahrhundert.

Schnäppchen sind beim Buch nicht zu machen

Auch andere Branchen erleben die Umkehr des vermeintlichen Fortschritts und erfahren, dass nicht alle Menschen ihre Kleidung bei „Zalando“ ordern oder ihre Lebensmittel von „Bringmeister“ wollen. Aber dergleichen exklusiven Einkauf beim spezialisierten Käsehändler, beim Weinverkoster, Bio-Metzger oder im Modegeschäft mit Garantie auf kinderarbeitsfreie Herstellung muss man sich leisten können und ist nicht jeder Klientel möglich. Im Buchhandel aber sind keine Schnäppchen zu machen. Die Buchpreisbindung gilt für alle, das gleiche Buch kostet das Gleiche bei Amazon, Hugendubel, der Nicolaischen.

Der Buchkauf im Versand kostet zudem Nerven. Wenn der Käufer bei Lieferung nicht daheim ist, oder, was mehrheitlich der Fall sein dürfte, der DHL-Bote zu faul oder zu gehetzt ist, die Treppen hoch zu laufen, findet der Käufer kein Buch vor der Tür, sondern im Briefkasten den Abholschein fürs nächste Paketpostamt. Was für ein Umstand, und das für einen Konzern, dessen Personalpolitik und -umgang an der Moral der lesenden Käufer zehrt. Just in diesen Tagen, rechtzeitig zur Buchmesse in Leipzig hat die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi wieder zum Streik bei Amazon aufgerufen.

Und noch eine Neuerung hat den Einzelhandel des Buches wieder ins Geschäft gebracht. Nahezu alle Buchläden betreiben inzwischen ihre eigenen Websites. Jeder kann abends um 23 Uhr nach einem Buchtipp im Fernsehen, Radio oder – noch besser – nach Rezensionslektüre in der Zeitung zum Laptop gehen und beim Buchhändler seines Vertrauens bestellen. Tags darauf liegt es zur Abholung bereit.

„Und dort wird der Kunde dann, sagen wir es so“, sagt Martina Tittler, „noch gepampert.“ Soll heißen: Oft wird er namentlich begrüßt, man kennt sich im Kiez und im Kiezladen, man plauscht, tauscht sich aus über dies und das, über Buch und das Leben. „Ein Internet-Einkauf ist doch sehr unerotisch“, sagt Frau Tittler. „Und, seien wir doch ehrlich, es schmeichelt uns doch allen, es wärmt doch das Herz, wenn es persönlich zugeht.“

Der Buchladen als Schmökerecke und Treffpunkt. Der Großkonzern Hugendubel versucht es mit Lesenischen. Vergisst aber die Beratung und scheitert.
Der Buchladen als Schmökerecke und Treffpunkt. Der Großkonzern Hugendubel versucht es mit Lesenischen. Vergisst aber die Beratung und scheitert.

© picture-alliance / Sueddeutsche

2009
2009

© picture alliance / dpa

Und es geht heimelig zu in ihrem Laden. Vom Hauptraum mit der Kasse geht rechts ein leicht erhöhter Raum ab, es geht winkelig zu, nicht geradlinig und linear, eine Wendeltreppe führt nach oben zur kleinen Galerie. Dort stehen zwei kleine Holzbänke, die, so wie sie gepolstert sind, auch als Diwane durchgehen könnten. Hell ist es im gesamten Geschäft. „Die Menschen haben eine Beziehung zu dem Laden, fast so etwas wie Verantwortung. Nach der Renovierung habe ich viele Kommentare gehört: ,Ich war ja schon gespannt, wie mein Buchladen aussieht’. Verstehen Sie, die Leute sprechen von ihrem Buchladen.“

Der Friedenauer Kiez ist nun ein spezieller Kiez, wenn man so will, ein Buchkiez. Auch wenn Uwe Johnson und Günter Grass nicht mehr wie einst hier leben, es ist ein bildungsbürgerlicher Kiez. Wie auch der vom Prenzlauer Berg, von Mitte, von Charlottenburg, den Bezirken, wo die Dichte der über 200 unabhängigen Einzelbuchhändler am größten ist. Dort leben die mehr oder minder gut situierten Bildungsbürger, Schauspieler, Journalisten, Juristen, Architekten, Akademiker, die Buchberatung nicht brauchen, aber die persönliche Note schätzen.

Spaziergang durch die abendlichen Privatbibliotheken

Almut Winter von der Giesebrechtstraße erzählt, was am Anfang ihrer nun sechsjährigen Erfolgsgeschichte stand: ein abendlicher Spaziergang durch die Straßen rund um das damals noch existierende kultische Kino „Kurbel“. Almut Winter hatte in Bonn Germanistik studiert, hatte die Buchhändlerschule besucht, aber damals mit 44 Jahren war sie arbeitslos. Und wenn man, auch heute noch, durch diese Straßen schlendert, sieht man die erleuchteten Altbauwohnungen mit ihren hohen Räumen, an deren Wänden vielfach, schon fast massenhaft vielfach, Regale angebracht sind mit beeindruckenden privaten Bibliotheken. Das Buch, habe sie damals gedacht, immer mal wieder totgesagt trotz 400 Millionen Büchern, die jährlich in Deutschland verkauft werden, ist nicht totzukriegen. „Bei diesem Spaziergang wurde mir klar, das ist mein Standort, hier wage ich es.“

Ein Anruf bei Johanna Hahn, der zweiten Geschäftsführerin des Berliner Börsenvereins. Der erste Geschäftsführer, Detlef Blum, saß schon im Auto auf dem Weg nach Leipzig zur Buchmesse, es ist aber sicher nur ein romantischer und etwas ketzerischer Gedanke, dass solche Buch-Aficionados so technischen Schweinkram wie Freisprechanlagen nicht können oder mögen. „Ja, es stimmt“, sagt Frau Hahn, „der Berliner Buchhandel erfreut sich seit einiger Zeit einer signifikanten Wiederbelebung.“ Zwar würde es auch Schließungen geben, aber die seien meist altersbedingt oder durch drastische Mieterhöhungen erzwungen. „Aber die Zahl der Vermieter, deren Haus sie lieber im Erdgeschoss mit einem Buchladen schmücken als mit der nächsten Falafel-Bude oder dem nächsten Späti ist erfreulich groß und wird größer“.

Der Selbstversuch des Autors hat gewiss keine empirische Beweiskraft, aber bemerkenswert ist das Ergebnis schon. Im Umkreis seines Wohnortes am Adenauer Platz von nur 400 Metern finden sich sechs Buchläden, plus etliche Antiquariate. Die magische Zahl fürs Überleben lautet 250000 Euro. So viel Umsatz muss ein Buchladen pro Angestelltem im Jahr erwirtschaften, um gut über die Runden zu kommen. „Hacker & Presting“, „Wunsch-Buch“, Frau Winter, „Timbuktu“ und so weiter kommen gut über die Runden. „Wir sind Anlaufstelle geworden“, sagt Martina Tittler. Die Veranstaltungen der Einzelbuchläden, Lesungen, Diskussionsforen, aber auch Musikabende sind allesamt gut gebucht. Es passen meist nur 30, 40 Menschen in die kleinen Geschäfte, aber auch die reichen, um die Atmosphäre zu bestimmen.

Na ja, "haptisch" ist abgedroschen, aber doch wahr

„Es ist“, sagt Almut Winter, „auch wenn das Wort in diesem Zusammenhang reichlich abgedroschen ist, eben doch etwas anderes, ein Buch haptisch zu erleben, in der Hand zu haben, Papier umzublättern.“ Na, ja, liebe Frau Winter, für die Generation Ü 50 vielleicht.

Ja, es stimmt, die bestimmt die Altersstruktur in den Buchläden. Aber nicht ausschließlich. Und für die Jüngeren, die lieber auf dem Tablet ein E-Book lesen, hat die Nicolaische Buchhandlung in Kürze eine Innovation auf dem Berliner Buchmarkt im Angebot. „Ich stelle hier Bildschirme auf. Auch E-Books haben Cover. Und dann können sich die Kunden die Cover anschauen, sich beraten lassen, was sie zu Hause nicht können, hier bei mir den Code kaufen. Und wenn sie dann zu Hause sind, haben sie eine E-Mail bekommen mit der Freischaltung des Buches.“

Das werde sie sicherlich nicht machen, sagt Almut Winter, zwar verkaufe sie auch E-Books, aber lieber nicht, „ich prophezeie, dass das E-Book verstauben wird.“ Aber letztendlich sei es ja auch egal, wie die Menschen lesen, Hauptsache sie lesen.

Offensichtlich tun sie es. Es scheint paradox zu sein: Die großen Ketten darben, lange schon ist das große Geschäft von Hugendubel an der Tauentzienstraße geschlossen, das Stammhaus des Konzerns am Münchner Marienplatz soll folgen, der großflächige Buchhandel ist bei der Mietpreisentwicklung nicht mehr rentabel. Andere zerfleddern sich selbst, wie Weltbild, der irgendwie von irgendeinem Kurs abgekommen ist, und Thalia steht immer mal wieder zum Verkauf, dann wieder nicht, dann wieder doch. Und der Kiezladen profitiert durch hohen persönlichen Einsatz der Händler.

Und eben nicht nur im Bildungsbürgertum. Noch mal Johanna Hahn vom Börsenverein: „Die Zeiten, in denen in den eher bildungsfernen Kiezen die Eltern einmal im Jahr einen Buchladen betreten, um die Schulbücher für die Kinder zu kaufen, sind auch vorbei. Nur ein Beispiel: Auch die Buchhandlung Sosch in den Gropiuspassagen in Neukölln blüht.“

Was für eine schöne, erstaunliche und Trost spendende Entwicklung in Zeiten, in denen sich das gedruckte Wort einen scheinbar unversöhnlichen Kampf mit dem Online-Wort liefert.

Bleibt zu hoffen, dass in fünf, sechs Jahren hier an dieser Stelle nicht wieder das genaue Gegenteil zu lesen sein wird. Bleibt zu hoffen, dass der Kiezbuchladen, dass alle Kiezbuchläden bis dahin weiter blühen. Der Autor steht nämlich dann kurz vor der Rente. Dann wird er Zeit haben für all die Bücher, die im Laden um die Ecke darauf warten, gelesen zu werden.

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