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Die Befürworter einer Verfassungsänderung feierten in der Hauptstadt bis spät in die Nacht.

© AFP/Pedro Ugarte

Bruch mit Pinochets Erbe: Chilenen stimmen mit deutlicher Mehrheit für neue Verfassung

Ein neues Grundgesetz gehörte zu den Kernforderungen der Opposition. Jetzt soll eine Verfassungsgebende Versammlung ein neues Regelwerk verfassen.

32 Jahre nach dem Ende der Diktatur schlägt Chile ein neues Kapitel auf. Die Chilenen stimmten am Sonntag für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Die geltende war unter dem Diktator Augusto Pinochet ohne gesellschaftliche Aussprache beschlossen worden.

Ersten Ergebnissen zufolge votierten 78 Prozent der Chilenen für die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, die ein neues Grundgesetz ausarbeiten soll.

79 Prozent der Wähler waren dafür, dass dieses Gremium ganz neu gewählt und paritätisch besetzt wird. Die Wahlen sind im April 2021 geplant, danach hat die Versammlung ein Jahr Zeit, einen Entwurf zu erarbeiten.

Es ist ein Sieg für die Kritiker des rechten Präsidenten

Das Plebiszit war wegen des Coronavirus um ein halbes Jahr verschoben worden. Den ganzen Tag über waren die Chilenen in die Abstimmungslokale geströmt; die Wahlbeteiligung dürfte eine der höchsten gewesen sein, seit 2012 die Wahlpflicht abgeschafft wurde.
Es ist ein Sieg für die Kritiker des rechten Präsidenten Sebastián Piñera und die Protestbewegung, die vor einem Jahr begonnen hatte. Die Demonstrationen hatten sich an einer Fahrpreiserhöhung im Nahverkehr entzündet, eskalierten aber bald in Streiks, Plünderungen und Sabotage. Bei der Niederschlagung der Proteste durch Militär und Polizei kam es laut UN zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen. 30 Menschen starben, über 400 wurden verletzt, viele gefoltert. Die Regierung lenkte schließlich ein und bewilligte das Plebiszit. Mit Fahnen, Hupkonzerten und Slogans wie „Chile ist aufgewacht“ und „Pinochet, wir begraben dein Erbe“ feierten am Sonntagabend Zehntausende im ganzen Land den Ausgang der Abstimmung.

Chiles Präsident Sebastián Piñera.
Chiles Präsident Sebastián Piñera.

© Claudio Reyes/AFP

Die alte Verfassung hatte zahlreiche Klauseln, mit denen sich die rechte Elite und das Militär Einfluss sicherten. Vieles davon wurde im Laufe der Jahre reformiert und demokratisiert. Doch vor allem die neoliberale Wirtschaftsordnung, die den gesellschaftlichen Solidarpakt untergrub, blieb erhalten.

Das Modell sorgte zwar für wirtschaftlichen Wohlstand, jedoch hakt es laut OECD bei der Steuergerechtigkeit und Umverteilung. Die Armut sank, aber die Mittelschicht musste sich verschulden und lebte prekär.

Zehn Prozent der Chilenen besitzen rund 66 Prozent des Reichtums; über die Hälfte der Bevölkerung verdient kaum mehr als den Mindestlohn von umgerechnet knapp 400 Euro. In den vergangenen Jahren machten verschiedene Gruppen ihrem Ärger immer wieder Luft. Sie demonstrierten gegen Minirenten und die Privatisierung von Bildung und Gesundheit, gegen Raubbau an der Natur, Vetternwirtschaft und Korruption.

Frauen und Indigene erhalten stärkere Präsenz

Die Politologin Claudia Heiss von der staatlichen Universität von Chile begrüßte den Ausgang. Die Mehrheit der Chilenen stehe nicht hinter der alten Verfassung, Korrekturen etwa bei der Repräsentation von Frauen und Indigenen seien dringend notwendig, um eine neue, legitime Basis zu schaffen.

Konservative Verfassungsrechtler wie die Professorin Constanza Hube gaben hingegen zu bedenken, dass nun wieder bei null begonnen und eine lange Rechtstradition über Bord geworfen wird. Der Soziologe Patricio Nava befürchtete, die neue Verfassung könne zu einer bunten Erklärung guter Absichten werden und damit letztlich ins Leere laufen. Chiles Elite befürchtet, ihre Privilegien zu verlieren. Das indigene Volk der Mapuche dagegen erwartet mehr Gerechtigkeit für die Indigenen, die 13 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Feministinnen und Vertreter der LGBT-Gemeinschaft wollen das konservative Weltbild aufbrechen und mehr Gleichberechtigung verankern. Sandra Weiss

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