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Wem bleibt was?

© Kai Remmers/dpa/tmn

Bröckelnder Wohlstand: Wer Verzicht zu Gruselzwecken predigt, schadet der Demokratie

Schlechte Wirtschaftsdaten betreffen nicht nur Portemonnaies, sie erschüttern auch stabilisierende Überzeugungen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Es mangelt derzeit nicht an Mahnungen, dass es der heiteren Wohlstandswelt, wie man sie hierzulande kennt, an den Kragen geht. Ob im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg und Russland-Sanktionen oder davor schon mit der Klimakrise, es wird an die Menschen appelliert, sich darauf einzustellen, dass Einsparungen, Beschränkungen und Verzicht auf sie zukommen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck fand dafür die prägnante Formel „Wir werden ärmer werden.“

Das wird in den Ohren vieler Menschen nicht sonderlich attraktiv klingen. Und ihre Sensoren dürften geschärft sein für Meldungen wie die von der IWF-Frühjahrstagung vom Freitag, wo es hieß, dass es beim Wirtschaftswachstum zu „mehr Absenkungen“ (Christine Lagarde, Chefin der Europäischen Zentralbank) kommen könne, während die Inflationsrisiken aufwärts gerichtet blieben. Kommt da etwas auf uns zu? Und wenn ja, was? Eine Unsicherheit macht sich breit.

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Und so sind die schlechten Prognosen aus der Welt der Wirtschaft mehr als ein Thema für die Portemonnaies. Das angekündigte Ende des Wohlstandswachstums ist der Bruch mit einer systemstabilisierenden Erwartungshaltung, die jahrzehntelang galt: dass es den Kindern einmal besser gehen werde als ihren Eltern. Diese Aussicht half über manche Unzufriedenheiten hinweg. Sollte sie wegfallen, könnte sich das auch auf das System auswirken: auf die Demokratie.

Kühlschränke und VW Käfer halfen auch der Demokratie

Zwar weisen Demokratieforscher wie Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin darauf hin, dass die Kontroverse um Zusammenhänge und Kausalitäten zwischen Wohlstand und Demokratie nicht entschieden sei. Doch habe in den frühen Jahren der Bundesrepublik das Wirtschaftswunder sehr wohl als Demokratisierungstreiber gewirkt, als die Menschen ihre Freude über den VW Käfer und den neuen Kühlschrank auch der Staatsform gutschrieben. Diese Versuchsanordnung gebe es auch in der umgekehrten, quasi negativen Variante.

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Als einen Beleg dafür kann die grundsätzlich größere Demokratieskepsis im wirtschaftlich schwächeren Osten Deutschlands nehmen oder eruptiv die Gelbwesten-Proteste in Frankreich von 2018 / 2019. Da gingen Monate lang Samstag auf Samstag Menschen gegen Energieverteuerung auf die Straßen, und die Situation eskalierte immer wieder und teils massiv. Der Frust der Demonstrierenden betraf nicht nur die Preissteigerungen, sondern auch die politische Elite und alles, wofür sie stand. Auch an diesem Sonntag, bei der Stichwahl um das Präsidentenamt, wird diese Melange mitentscheiden, wer gewinnt.

Für die Politik wird das Einstimmen der Bevölkerung auf Einschnitte durch die Berücksichtigung der Demokratietangente sicher nicht einfacher. Es ist aber wichtig, das nicht zu übergehen. Es könnte auch zu Maßhalten bei den bedrohlichen Verzichtskulissen anhalten, die derzeit in den öffentlichen Raum gestellt werden. Wer die Menschen zu Entbehrungen aufruft, muss das gut und plausibel begründen und dazusagen, ob es um kurz- oder langfristige Perspektiven geht.

Verzicht zu Gruselzwecken zu predigen, ist so fehl am Platz wie irgendwelche Alarmismen, denn das damit verbundene Sekundärrisiko Demokratiefrust ist zu groß. Die Einspar-Formel „Wir werden ärmer werden“ war insofern gut, als sie das Versprechen einer solidarischen „Wir“-Erfahrung enthielt. Geht der Glaube daran in der Breite verloren, kann daraus schnell systemrelevanter Zunder werden.

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