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Viel mehr Entfernung zwischen Frau und Mann ist kaum möglich. Die unterschiedlichen Auffassungen von Demokratie sind Angela Merkel und Donald Trump ins Gesicht geschrieben - hier beim G7-Gipfel im französischen Biarritz im vergangenen August.

© picture alliance/dpa/Michael Kappeler

Brief aus Amerika: Warum ich auf die deutsche Demokratie neidisch bin

Angela Merkel bemüht sich in Coronazeiten um eine neue Solidarität, Donald Trump spielt seine alten Spiele. Ein Gastbeitrag.

William Collins Donahue ist Professor of the Humanities an der University of Notre Dame in Indiana. Dort leitet er die Initiative für ein globales Europa an der Keough School of Global Affairs.

Wenn dies normale Zeiten wären, würde ich diese Zeilen aus Deutschland an ein amerikanisches Publikum richten. Aber das Blatt hat sich gewendet. Ich musste gerade mein alljährliches „Berlin Seminar“ absagen, bei dem ich, zusammen mit meinem Kollegen Martin Kagel, amerikanische Germanisten mit den literarischen Institutionen des Landes vertraut mache.

Anfang des Monats, als das Bewusstsein für das Coronavirus noch wenig ausgeprägt war, trat ich die Heimreise zu meiner Hochschule, der University of Notre Dame, nach Indiana an.

Bis auf eine Reihe von Fragen am Flughafen und einige Ratschläge zur Hygiene im Flugzeug herrschte Normalität. Jetzt sind viele Orte in den Staaten fast vollständig abgeriegelt, und auch Deutschland hat strenge Ausgangsbeschränkungen beschlossen.

Ich muss gestehen, dass ich ein wenig neidisch auf die Deutschen bin. Vergangene Woche wandte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel an die Nation und kündigte mit entschlossener Ruhe und vorbildlicher Kürze an, wie die deutsche Regierung den Kampf mit dem Coronavirus aufnehmen werde.

[Epidemiologe warnt vor noch schärferen Maßnahmen: „Gibt keinen Grund, das ganze Land in häusliche Quarantäne zu schicken“]

Justin Davidson kommentierte die Fernsehansprache im „New York Magazine“ treffend: „Leader of the Free World Gives a Speech, and She Nails It“ (Anführerin der freien Welt hält eine Rede und trifft den Nagel auf den Kopf). „Sie tat“, schrieb er, „was eine Anführerin tun sollte“, und zwar „ohne Anschuldigungen, Prahlereien, Absicherungen, Verschleierungen, dubiose Behauptungen oder apokalyptische Metaphern“.

Historische Aufgabe

„Wir sind eine Demokratie“, erinnerte Merkel die Zuschauer. „Wir leben nicht von Zwang, sondern von geteiltem Wissen und Mitwirkung. Dies ist eine historische Aufgabe, und sie ist nur gemeinsam zu bewältigen.“

Dann kamen die denkwürdigen Worte: „Dass wir diese Krise überwinden werden, dessen bin ich vollkommen sicher. Aber wie hoch werden die Opfer sein? Wie viele geliebte Menschen werden wir verlieren?“ Mit direktem Blick in die Kamera erklärte sie: „Wir haben es zu einem großen Teil selbst in der Hand.“

Es wäre zu billig, noch einmal festzustellen, dass Merkel all das ist, was Trump nicht ist. Das tägliche Gewäsch des Präsidenten und sein Getue auf langatmigen Pressekonferenzen, sein erbärmlicher Versuch, sich selbst als Anführer in Zeiten des Krieges zu inszenieren, bieten ein allzu leichtes Ziel.

Und das, obwohl man einem solchen Führer gerade vieles verzeihen kann, auch einen Mangel an Gelassenheit und Eloquenz – was vielleicht die gesteigerte Zustimmung zu Trump erklärt, die im Lauf einer Woche von 43 auf 55 Prozent anwuchs.

Merkels moralischer Appell an die Deutschen wäre wohl nicht mehr als eine nette Rede gewesen, wenn es in Deutschland nicht noch andere Zeichen gäbe, dass es auf Demokratie und Zusammenhalt ankommt.

Keine Zeit für Spaltungen

Denn diese Zeit der Gefahr und der Angst hat in Deutschland nicht dazu geführt, Sündenböcke zu suchen und bestehende Spaltungen zu verschärfen, sondern zu einer Stärkung der Demokratie.

Das Bundesministerium des Inneren hat erst in dieser Woche die berüchtigte Bewegung der „Reichsbürger“ auflösen lassen. Am Donnerstagmorgen wurden in in 10 von 16 Bundesländern die Wohnungen von 21 ihrer Führer durchsucht.

Obwohl Innenminister Horst Seehofer aus Angst vor Stimmenverlusten an die AfD lange mit einer Ideologie der Scholle geflirtet hatte, widerstand er nun der Versuchung, die Pandemie für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Er entschied sich stattdessen für einen Kurs gegen Rassismus, Islamophobie und Antisemitismus.

Obwohl fortschrittliche Deutsche dazu neigen, dies als das Mindeste zu betrachten, was man von einem Minister erwarten kann, ist Seehofers Politik dennoch bemerkenswert, schon allein wegen der Art und Weise, wie sie sich von ihrem amerikanischen Gegenstück unterscheidet.

Neuer Anlass für eine alte Kampagne

Am vergangenen Freitag nutzte Präsident Trump die Ankündigung, die mexikanische Grenze zu schließen, nämlich als Gelegenheit, seine fremden- und immigrationsfeindliche Kampagne voranzutreiben.

Damit soll nicht geleugnet werden, dass die Grenzschließung sich auch gesundheitspolitisch rechtfertigen lässt, wie der renommierte Immunologe Tony Fauci später bei derselben Pressekonferenz erklärte. Doch Trumps Rhetorik offenbart den Willen, die gegenwärtige Krise für Zwecke auszunutzen, die weit über die Umstände hinausreichen.

Von der Zeit vor der Krise behauptete der Präsident: „Woche für Woche bekommen es unsere Beamten mit Tausenden unbemerkter, ungeprüfter und unbefugter Grenzübertritte aus Dutzenden von Ländern zu tun. Und dieses Problem haben wir seit Jahrzehnten. Seit Jahrzehnten.“

Andeutungen, unmissverständlich ausformuliert

Seine Anhänger erkannten darin auf Anhieb die alte Leier von den durchseuchten und kriminellen Einwanderern und Flüchtlingen; aber er wollte kein Risiko eingehen und stellte noch einmal klar, was andere missverstehen hätten können. „Schon in normalen Zeiten“, behauptete er, „stellen diese massiven Ströme eine enorme Belastung für unser Gesundheitssystem dar.“

Tatsache ist, dass es nicht einen einzigen Beweis für diese Behauptung gibt. Aber angesichts der Konzentration auf die gegenwärtige Pandemie und der düsteren Prognosen für die nahe Zukunft übersahen viele Kommentatoren diese bis zum Überdruss wiederholte Rhetorik gegen Einwanderer.

Darin aber den offensichtlichen Rassismus zu erkennen, mit dem Präsident Trump von einem „chinesischen Virus“ spricht, sollte uns nicht blind machen für die jüngsten Gemeinheiten des Präsidenten gegen die Mexikaner und gegen all diejenigen, die versuchen, auf dem Weg über Mexiko in die USA zu kommen.

Für Trump ist Einwanderung an sich schon eine Pandemie, und er scheint fast erfreut zu sein, seine Instrumente gegen dieses alte Schreckgespenst einsetzen zu können: „Nun aber können wir – in Anbetracht der nationalen Notfälle und all der anderen Dinge, die wir bekanntgegeben haben, tatsächlich etwas dagegen tun. Wir ergreifen harte Maßnahmen. Und das haben wir schon früher getan, aber jetzt sind wir auf einem Niveau, an das sich noch niemand gewagt hat.“

Weit davon entfernt, alte Streitigkeiten ad acta zu legen, um sich auf die bevorstehenden Herausforderungen zu konzentrieren, nutzt dieser Möchtegern-Kriegspräsident die Lage, um seine Agenda voranzutreiben. Hinter seinem Versuch, die Pandemie zu bewältigen, schimmert seine vertraute „We Build The Wall“-Haltung hindurch.

Beruhigende Nachrichten aus Deutschland

Die Nachrichten aus Deutschland dagegen sind trotz wohlbegründeter Sorgen um die Auflösung des vereinten Europa wegen der Grenzschließungen beruhigend.

In einer Zeit, in der Ängste ausgenutzt werden, um das Feuer der Fremdenfeindlichkeit zu schüren, bietet Deutschland nicht nur Worte des Trosts aus dem Munde einer wortgewandten Kanzlerin, sondern auch energische Maßnahmen, die ihrem Aufruf zu Solidarität und Demokratie den entsprechenden Sinn verleihen.

Bisher war der Begriff „Leitkultur“ kulturchauvinistisch durchtränkt und richtete sich gegen Einwanderer. Vielleicht lässt er sich nun neu einsetzen, um Führung positiver, nämlich als Steuerung einer Demokratie durch Krisenzeiten, zu bezeichnen.

Wer hätte gedacht, dass 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Deutschland den Vereinigten Staaten Unterricht in Sachen Demokratie erteilen würde?

Aus dem amerikanischen Englisch von Gregor Dotzauer

William Collins Donahue

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