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Sind erbitterte Widersacher: Premierminister David Cameron und der frühere Bürgermeister Londons (r.), Boris Johnson.

© AFP

Brexit-Votum in Großbritannien: Letzter Spieltag für die Zocker Cameron und Johnson

„Wir stehen zu Europa, aber wir gehören nicht dazu“, sagte Churchill. Heute wird sich zeigen, ob England das immer noch so sieht. Dass es so weit kommen konnte, liegt auch an der Rivalität zweier ungleicher Männer.

Die Briten sind Spieler, die Geld auf rennende Hunde setzen, um ihren Gewinn als Newcastle Brown Ale zu vertrinken. Doch Premierminister David Camerons Wette ist größer. Er hat sein Land auf die Rennbahn geschickt, als wäre es auch nur ein Windhund.

Das Wettbüro von William Hill in der James Street im Zentrum von London liegt im Keller und ist fast leer. Ein alter Mann blättert durch die Renntermine, die an der Wand hängen, ein anderer verfolgt auf einem der großen Flachbildschirme ein Pferderennen. Brexit? „Die Quote ist 3/1“, sagt Marilyn, die hinter einer Scheibe die Wetten annimmt. Als Nigel Farage von der United Kingdom Independence Party begleitet von vielen Journalisten 1000 Pfund in bar auf einen Ausstieg der Briten aus der EU gesetzt hatte, war die Quote noch besser. 3500 Pfund könnte er gewinnen. „Ja“, sagt Marilyn, „es geht auf und ab.“ Geht sie abstimmen? Sie zuckt nur mit den Schultern.

Es gibt Spieler, die sind kühl und abgezockt. Cameron ist anders, er ist bieder und macht einen unbedarften Eindruck. In Oxford war er Präsident des berühmten Debatten-Clubs, doch als er vor Jahren, damals noch als Oppositionsführer, nach Berlin kommt und sich mit vier, fünf Journalisten in einem Restaurant in der Friedrichstraße zum Mittagessen trifft, liest er seine kurze Rede von Karteikarten ab, die er hinter einer Tasse versteckt hält. Cameron hat eine Frau aus der Oberschicht, und fährt er mit ihr in den Urlaub, gibt es nachher immer das gleiche Bild: Cameron, in kurzen Hosen und Polohemd, sitzt mit Samantha an einem kleinen Tisch, in Cornwall vor einem Bier, auf Mallorca mit einem Espresso. Wie Briten im Urlaub eben so aussehen.

Johnson ist ein politischer Dandy

Sein Widersacher und Parteikollege Boris Johnson spielt das Spiel anders. Er zeugt Kinder außerhalb seiner Ehen und liebt die Antike, er ist ein Großmaul, ein Fahrradfanatiker, ein Liebling der Massen. Alexander Boris de Pfeffel Johnson ist ein politischer Dandy. Und der Dandy ist bereit, für eine Geste alles aufs Spiel zu setzen. Das ist nicht vernünftig, aber weckt Bewunderung. George „Beau“ Brummell, der Freund des Prinzregenten und späteren Königs Georgs IV., knotete morgens ein frisches Halstuch nach dem anderen, bis eines endlich saß. Manchmal zehn oder zwanzig. Johnson verwuschelt sein blondes Haar so lange, bis es richtig sitzt. Aber wie so vieles bei ihm, sitzt es nie richtig. Johnson, schrieb eine Ex von ihm in der „Daily Mail“, sei ein einsamer Mann, der nach Zuneigung giert. Johnson ist ein einsamer Clown, Cameron hat viele Freunde.

Vor drei Jahren war Johnson zu Besuch in Berlin, damals war er noch Bürgermeister von London. „It’s all perfectly wunderbar“, schrieb er danach in seiner „Telegraph“-Kolumne, Thatcher und sein eigener Großvater hätten falschgelegen. Es sei Zeit, das neue Deutschland zu umarmen: „Es gibt viel, das wir bewundern und nachahmen sollten.“ Das ist lange her. Am vergangenen Montag war Johnson wieder dran mit seiner Kolumne: „Jetzt geht es darum, an uns zu glauben und an das, was Großbritannien leisten kann.“

Es gibt nur wenige, die Johnson abnehmen, dass er die EU wirklich für den Untergang der Welt hält. Er hatte lange gezögert, angeblich zwei Reden vorbereitet, die eine für den Verbleib in der EU, die andere dagegen. Auch David Cameron hatte bis zuletzt um ihn gekämpft. Als sich Johnson 2015 entschied, für das Unterhaus zu kandidieren, zeigte sich Cameron erfreut: „Ich möchte, dass meine Star-Spieler auf dem Platz stehen.“ Er hatte ihm, so heißt es, außer dem Finanzministerium jeden Kabinettsposten angeboten, um ihn ins Pro-EU-Lager zu locken. Ohne Erfolg. Johnson schickte Cameron eine SMS, neun Minuten später trat er vor die Presse. „Das Letzte, was ich wollte, war gegen David Cameron zu stehen“, sagte er. Und tat es trotzdem.

Die zwei Gegenspieler kennen sich aus Eton

David Cameron und Boris Johnson kennen sich aus Eton. Eddie Redmayne, der vor zwei Jahren für seine Darstellung von Stephen Hawking in „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ einen Oscar bekam, war auch in Eton. Und Guy Burgess, der sich als geflohener Spion der Sowjets in Moskau zu Tode trank. Und 19 Premierminister. Johnson kam zwei Jahre früher nach Eton, und als Cameron eingeschult wird, ist Johnson bereits ein King’s Scholar und in der ganzen Schule bekannt. Cameron hat diese zwei Jahre nie aufgeholt. „Wenn sie zusammen sind, ist es ganz niedlich, weil David Cameron – obwohl er größer ist – auf Boris blickt, als sei er noch der Schulsprecher von Eton“, sagt Johnsons Schwester Rachel.

Doch das Spielerische ist kein Phänomen der Eliten in Eton. Als Karl-Heinz Bohrer, er war in der 1970er Jahren Korrespondent der „FAZ“ in London, mitansehen muss, wie sein Lieblingsklub Borussia Mönchengladbach beim FC Liverpool unter die Räder gerät, fällt ihm etwas „ungeheuer Eindrucksvolles“ auf: „Ja, es war das Theatralische, was den englischen Fußball mit dem englischen Theater und dem englischen Parlament verband. Es war das Ausdrucksvermögen, ein exzentrischer Ausdruckswille.“ Ohne diese „theatralische Lust am TheaterspielenWollen“ sei das englische Leben nicht zu verstehen, schreibt er heute.

Kann es denn wirtschaftlich schlechter werden?

Auch Candi, die in der Baker Street bei Starbucks Kaffee verkauft, ist bereit zu einer großen Geste. Sie ist Anfang zwanzig, alle ihre Freunde sind für den Verbleib, sie aber ist für den Brexit. Weil es wirtschaftlich ja gar nicht schlechter werden kann und weil sie gegen die Bevormundung aus Brüssel ist. Die klassischen Argumente. Sie ist für den Brexit, sagt sie noch, aber sie sei überzeugt, dass er nicht kommt. „Ich bin 100 Prozent sicher, dass wir drinbleiben. Die Regierung wird irgendeinen Weg finden.“ Für sie ist es ein Spiel ohne Risiko.

Johnson und Cameron treffen sich in Oxford wieder, der Abstand bleibt. Johnson studiert am intellektuellen Balliol College, Cameron am unscheinbaren Brasenose College. Sie sind Mitglieder des elitären Bullingdon Club, aus dem in Evelyn Waughs Roman „Verfall und Untergang“ der „Bollinger Club“ wird. „Die Bullingdon boys“, sagt Johnsons Biograf Andrew Gimson, „wollten größere Risiken eingehen.“ Jetzt besteht das Risiko darin, Ja zu sagen – oder Nein, ohne zu wissen, was dann kommt. Und so ist das Referendum, das Europa in Unruhe versetzt, wie gemacht für die beiden Bullingdoner – auch wenn die Rollenverteilung falsch ist.

Johnson war bei den Konservativen nie unumstritten

David Cameron, Mainstream aus der oberen Mittelschicht und geschmeidiges Produkt des konservativen Establishments, müsste eigentlich den „Brexiter“ geben, und Boris Johnson den EU-Verteidiger. Johnsons Vater war Abgeordneter im Europaparlament. Johnson ist in Brüssel zur Schule gegangen, seine älteste Tochter ist dort geboren. Er spricht Französisch, Spanisch und Italienisch. Am vergangenen Sonntag, es war Johnsons 52. Geburtstag, kam die Familie zu einem Abendessen zusammen. Boris, den sie Al nennen, hatte am Nachmittag im Londoner Old Billingsgate Market für den Ausstieg gekämpft, während sein Vater bei einer Pro-Europa-Veranstaltung aufgetreten ist. Er würde „nicht unbedingt um 180 Grad von Boris’ Analyse abweichen“, sagt Stanley Johnson, um Loyalität bemüht. „Ich würde mir jedoch wünschen, in der EU zu bleiben und die Reformen von innen durchzusetzen.“

Johnson war bei den Konservativen nie unumstritten. Mit dem ehemaligen Parteichef Michael Howard geriet er aneinander, weil er ihn über eine Affäre angelogen hatte, und als er auf dem Parteitag 2006 den beliebten Koch Jamie Oliver für dessen Vorschläge zum gesunden Essen angriff („die Leute sollen essen, was sie wollen“), kam es zum Eklat. Boris, der Populist, war der Partei immer zu unabhängig, zu ungesteuert. Die Entscheidung, sich auf die Seite von „Leave“ zu schlagen, war deshalb taktisch klug: Bleibt Großbritannien in der EU, wird Cameron Johnson vermutlich ins Boot holen, um die Partei zu einen; kommt es zum Brexit, ist Johnson einer der Anwärter auf 10 Downing Street. Dann wäre er Premierminister und nicht mehr ein Cameron, der in Eton zwei Jahre unter ihm war.

"Sind wir sind nicht an eine Leiche gekettet?"

„Noch mal, John, das stimmt nicht“, sagte Cameron mit zunehmender Verzweiflung. Am Mittwochmorgen, dem Tag vor dem Referendum, wird David Cameron noch einmal von dem BBC-Moderator John Humphreys in die Mangel genommen. Danach war nicht mehr viel übrig von dem Deal mit der EU, von seiner Vision für Europa. „Sind wir sind nicht an eine Leiche gekettet?“, und damit meint Humphreys die EU. Nein, sagt Cameron, wir haben in der Union „einen speziellen Status“. Auf die abschließende Frage, ob er Premierminister bleibt, wie auch immer das Referendum ausgeht, gibt er eine ausweichende Antwort. Er hätte auch sagen können: „John, ich habe das Schottland-Referendum gewonnen, obwohl mir das niemand zugetraut hat. Ich habe bei der Parlamentswahl eine absolute Mehrheit für die Konservativen gewonnen, was mir niemand zugetraut hat. Ich gewinne meine Spiele.“ Er hätte Shakespeares König Lear zitieren können: „Oft büßt das Gute ein, wer Bessres sucht.“ Aber dann hätte er geklungen wie Boris Johnson, und das ist er nicht.

Vor drei Jahren hat David Cameron seinen Landsleuten ein Referendum versprochen. In der ganzen Zeit gab es zwei Momente der Ernsthaftigkeit.

Obama las die Leviten

Vor wenigen Wochen, als der amerikanische Präsident Barack Obama vor seinem Besuch in London den Briten überraschend deutlich – „als Freund“ – die Leviten las: „Die Vereinigten Staaten und die Welt“, schrieb er in einem Gastbeitrag für eine Zeitung, brauchen „Großbritanniens enormen Einfluss – auch innerhalb Europas.“ In diesem Moment drang auf einmal das harte Licht der Realpolitik in Alices Wunderland ein und ließ all die Grinsekatzen und politischen Hutmacher erscheinen, als habe man sie bei einem infantilen Spiel ertappt. Doch der Moment währte nur kurz. Boris Johnson, wer sonst, warf Obama vor, er lehne als in Kenia Geborener die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien ab. Mit dem Aufwärmen der Verschwörungstheorie, Obama sei nicht auf Hawaii geboren, hat er es geschafft, dass keiner mehr über dessen Warnung sprach – sondern alle wieder nur über Johnson.

Das zweite tragische Mal ereignete sich am vergangenen Donnerstag. Die Ermordung der pro-europäischen, einwanderungsfreundlichen Labour-Abgeordneten Jo Cox ließ das Referendum plötzlich als Frage von Leben und Tod erscheinen. Wie sehr sich dadurch die Quote verschoben hat, wird sich zeigen. Bei der BBC-Fernsehdebatte am Dienstagabend war dem Thema Einwanderung jedenfalls das Gift entzogen, mit dem es die EU-Frage so lange durchsetzt hatte. „Wir sollten die Einwanderung feiern“, sagte selbst Boris Johnson, er sei nur gegen die unkontrollierte Einwanderung.

Das ganze Land muss auf die Rennbahn

Doch es gab noch immer Applaus für Boris Johnson, als er den Wahltag zum „Unabhängigkeitstag“ erklärte. Und noch immer distanzieren sich selbst die „Remain“-Vertreter von einer Europäischen Union, die den Euro hat, die mit der Türkei über einen Beitritt verhandelt, die eine gemeinsame Armee will. Das Publikum in der Wembley-Arena jubelt, wenn es gegen die Brüsseler Bürokraten zur Sache geht. „Wir stehen zu Europa, gehören aber nicht dazu“, hat Churchill gesagt. Daran hat sich nichts geändert.

Es ist leicht, David Cameron, dem Spieler, oder auch Boris Johnson, dem Schauspieler, einen Mangel an Ernsthaftigkeit zu unterstellen – vor allem, wer als Deutscher oder Pole einen besonderen Sinn für die Schwere der europäischen Existenz hat. Doch die beiden haben beim Referendum auch nur je eine Stimme. Am Donnerstag muss das ganze Land auf die Rennbahn. David Cameron wollte es so.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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