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Linn Selle ist seit Anfang des Monats Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD).

© Katrin Neuhauser/EBD

Brexit-Verhandlungen: "Das Weißbuch stellt eine Maximalposition dar"

Die Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD), Linn Selle, geht davon aus, dass die britische Regierungschefin Theresa May bei den Brexit-Verhandlungen gegenüber der EU noch nachgeben muss.

Frau Selle, derzeit verhandeln die EU und die britische Regierung in Brüssel wieder über den Brexit. Was halten Sie von den britischen Vorschlägen, die Regierungschefin Theresa May vergangene Woche im Weißbuch vorgelegt hat?

Grundsätzlich ist es gut, dass es jetzt überhaupt eine Verhandlungsbasis gibt. Politiker, Verbände und Nichtregierungsorganisationen haben ja lange genug darauf gewartet, dass die Regierung in London einen Vorschlag vorlegt. Ob das Papier, das nun auf dem Tisch liegt, tragfähig ist, muss sich noch zeigen. Das Vereinigte Königreich strebt in einigen Bereichen eine Zollunion mit der EU an, will aber gleichzeitig eine eigenständige Handelspolitik betreiben. In diesem Punkt haben das Vereinigte Königreich und die EU durchaus gegensätzliche Interessen.

London verfolgt den Plan, an den britischen Außengrenzen zweierlei Zölle zu erheben - einerseits für Waren, die für die EU bestimmt sind und andererseits für Güter, die nur nach Großbritannien importiert werden sollen. Kann das funktionieren?

Premierministerin May hat immer wieder gebetsmühlenhaft wiederholt, dass man kreative Lösungen brauche. Dies ist nun eine solche kreative Lösung. Aber es dürfte sehr schwer werden, dies operativ umzusetzen. Aus unserer Sicht ist es auch problematisch, dass London bei Industriegütern und Agarprodukten im EU-Binnenmarkt bleiben will, in anderen Bereichen aber nicht. Das ist Rosinenpickerei.

Was halten Sie davon, dass sich Großbritannien beim Verbraucherschutz langfristig vorbehalten will, eigene Standards zu setzen?

Zunächst einmal: Die Europäische Bewegung Deutschland bedauert sehr, dass sich die Briten und die Nordiren im Juni 2016 für den Brexit entschieden haben. Aber da die Entscheidung nun einmal so gefallen ist, muss man auch anerkennen, dass es dem Vereinigten Königreich zusteht, künftig eigene Standards zu setzen. Andererseits: Eine Absenkung von Standards beim Verbraucher- oder auch beim Umweltschutz konterkariert die Idee eines gemeinsamen Marktes für Waren. Falls es London gelingen sollte, sich die Vorteile des Binnenmarktes zu sichern, ohne die Regeln einzuhalten, dann könnte das einen verheerenden Dominoeffekt in der EU auslösen.

Die EU-Kommission soll bei ihren Verhandlungen mit London also hart bleiben, damit nicht andere EU-Ländern ebenfalls zu einer möglichen Austrittsentscheidung ermutigt werden?

Ja. Ich finde es sehr beeindruckend, dass sich die 27 verbleibenden EU-Staaten in ihrem deutlichen Auftreten gegenüber Westminster bisher nicht auseinanderdividieren lassen. Es gibt eine klare Linie der Kommission, der Wirtschaft und der Verbände: Der EU-Binnenmarkt hat Vorrang und muss geschützt werden. Noch einmal: Es war Großbritannien, das die Austrittsentscheidung getroffen hat. Es ist nicht Aufgabe der EU-Kommission, die Interessen Großbritanniens zu vertreten, sondern nun der EU-27.

Könnte aber nicht eine allzu kompromisslose Haltung der EU-Seite dazu führen, dass beide Seiten am Ende ganz ohne eine Vereinbarung dastehen?

Das wäre fatal, zumal die EU und Großbritannien künftig nicht nur eng in der Handelspolitik, sondern auch in der Sicherheitspolitik zusammenarbeiten sollten. Dennoch muss gerade jetzt das oberste Gebot für die EU-Seite darin bestehen, den eigenen Laden zusammenzuhalten.

Worin könnte die Lösung bei den Brexit-Verhandlungen bestehen?

Aus unserer Perspektive wäre das Norwegen-Modell ideal. Dabei müsste Großbritannien zwar in die EU-Kasse einzahlen, hätte aber in allen Bereichen einen vollständigen Zugang zum Binnenmarkt. Aber eine solche Lösung wäre kein echter Brexit und in gewisser Weise ein Verrat an einer Mehrheitsentscheidung der britischen Bevölkerung - ob man sie nun teilt oder nicht. Wir gehen jetzt faktisch mit den Vorschlägen aus dem Weißbuch auf eine Art Türkei-Modell - also eine begrenzte Zollunion - zu. Das muss nun geprüft und verhandelt werden. Die EBD wird sich jedoch stark dafür einsetzen, dass das Vereinigte Königreich weiter in Forschungskooperationen und in Erasmus-Programmen für Studenten mitmacht. Der Gedanke des Austauschs muss erhalten bleiben. Das bedeutet allerdings auch, dass auch Großbritannien seinen finanziellen Beitrag für diese Programme leisten muss.

Bei den britischen Konservativen bekämpfen sich Brexit-Hardliner und Remainer weiterhin. Wie wahrscheinlich ist es in Ihren Augen, dass es über den Sommer einen Klärungsprozess gibt?

Wenn es nicht zu einem harten Brexit kommen soll, müssen die Konservativen bald zu einer gemeinsamen Position kommen. Das Weißbuch stellt dabei eine britische Maximalposition dar, die das Vereinigte Königreich am Ende in dieser Form nicht wird verwirklichen können. In jedem Fall braucht es bei den Verhandlungen mehr Tempo: Im kommenden März tritt Großbritannien aus der EU aus. Das bedeutet, dass das Austrittsabkommen spätestens Mitte November stehen muss, damit das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente anschließend zustimmen können.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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