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Isn't it lovely? Deutsches Vollkornbrot ist entschieden gesünder als englischer Toast.

© dpa

Brexit und die Folgen: Mein Albtraum ist vorbei

Bye Bye Britain: Durch die deutsche Staatsbürgerschaft bin ich endlich wieder Europäer. Ein Essay

Tim Luscombe, 1960 in London geboren, lebt seit vielen Jahren in Berlin. Er ist Theaterregisseur, Dramatiker und Autor des Buches „Learning German (badly)“ (Claret Press 2019). Dirk Naguschewski hat seinen Essay aus dem Englischen übersetzt.

Endlich bekam ich einen Anruf vom Bürgeramt. Eine freundliche Stimme teilte mir mit, dass mein Antrag auf Einbürgerung genehmigt worden sei und lud mich ein, meine Urkunde abzuholen. Was für eine Erleichterung, dass der dicke Papierstapel, den ich im September eingereicht hatte, den Anforderungen entsprach. Kurz vor Ende der Brexit-Übergangszeit fürchtete ich nichts mehr, als meiner Rechte als EU-Bürger beraubt zu werden.

Als mein Land 1973 der damaligen EWG beitrat, war ich zwölf Jahre alt und superhappy. Zum Gedenken an das historische Ereignis wurde ein schicker neuer Briefmarkensatz aufgelegt. Viel Orange, Lila, dazu Flaggen aller beteiligten Länder. Die Marken erinnerten mich an mein damaliges Lieblingsalbum: eine Sammlung von Liedern des Eurovision Song Contest. Auf dem Cover zwölf europäische Flaggen und ein Haufen weißer Tauben.

Wenn der Beitritt zur EWG bedeutete, näher an jene Länder heranzurücken, die jedes Frühjahr für den einzigen Abend im Jahr zusammenkamen, an dem selbst die BBC mehrsprachig wurde, dann musste das doch eine tolle Sache sein, dachte ich mir.

Protofaschisten und Opportunisten

Aber für die britische Tory-Partei war der Beitritt des Landes zur späteren EU der Auslöser einer lang anhaltenden Krise. 2016 erreichte sie ihren traurigen Höhepunkt, als diejenigen, die den Vertrag von Maastricht für Verrat und den Vertrag von Lissabon für einen Angriff auf die Souveränität Großbritanniens hielten, sich mit Protofaschisten wie Nigel Farage und moralfreien Opportunisten wie Boris Johnson zusammentaten. Sie schürten unbegründete Ängste vor Einwanderern und brachten 52 Prozent der Briten dazu, für den Brexit zu stimmen.

Der Brexit, bevor er für mich zum persönlichen Albtraum wurde, ist seit jeher eine parteiinterne Angelegenheit der Tories, ein unüberschaubares Sammelbecken, in dem sich Atlantiker und Pro-Europäer, chauvinistische Fremdenhasser und Freihandelspragmatiker gegenüberstehen. Diese Spaltung setzte Thatchers Regierungszeit ein Ende – und der von John Major. Später zerbrachen an ihr die politischen Karrieren von David Cameron und Theresa May.

Auch Großbritanniens anderer großer Block, die Labour-Partei, repräsentiert eine breite Koalition, aber abgesehen von ihren radikalen Anti-EU-Anhängern hat Labour sich nie besonders um Europa gekümmert. Man erinnere sich nur an die Hängepartie während der Referendumskampagne.

Im Gegensatz zu den beiden großen Parteien war ich zu 100 Prozent für die europäische Integration. Sie gab mir ein Gefühl von Identität, das ich vorher nie hatte. Schon als Kind konnte ich mit dem Begriff des Patriotismus nichts anfangen. Im Großbritannien der 1970er und 80er Jahre erschien er mir triumphalistisch und regressiv. Aber Europäer zu sein war etwas, mit dem ich mich wohlfühlen konnte.

Grenzenlose Freiheit war mir selbstverständlich

Als ich anfing, den ganzen Kontinent zu bereisen, ihn immer besser kennenzulernen, schließlich dort zu arbeiten, zu leben und zu lieben, hielt ich die grenzenlose Freiheit, die mir mein Status als europäischer Bürger gab, für selbstverständlich. Als ich in Berlin einen Deutschen kennenlernte, den ich heiraten und mit dem ich zusammenleben wollte, gab es keine bürokratischen Probleme, weil wir beide einen EU-Pass hatten. Mit meiner EHIC-Karte war ich EU-weit krankenversichert. Fünf Minuten auf einem Bürgeramt in Treptow reichten aus, um mich anzumelden. No biggy.

Aber natürlich ging es um mehr als eine Aufenthaltsgenehmigung. Wie kann jemand, der auf Englisch schreibt, ernsthaft denken, dass seine Kultur durch den Ärmelkanal begrenzt wird? Fast alle meine „britischen“ Helden sind Europäer. Wilde, Beckett, Joyce, Shaw und Stoppard kamen als Fremde und entwarfen ein neues Sprechen, um den Briten zu sagen, wer sie sind. Für Shakespeare waren es Plutarch und Petrarca.

Linguistisch sind wir europäische Mischlinge, kulturell sind wir Made in Greece. Für mich ist das nicht nur „klar wie Kloßbrühe“ (I love this saying!), sondern auch eine Quelle unendlichen Stolzes. Föderalismus ist nicht Uniformität. Genau das ist der Punkt. Wir sind unterschiedlich, aber vereint. Welchen Pass ich auch immer trage, geistig werde ich immer ein Europäer sein. Zumindest dachte ich das.

Denn die Spaltung der Tory-Partei führte zum „Leave“-Sieg der Brexit-Nationalisten, Theresa May löste Artikel 50 aus, und meine europäische Staatsbürgerschaft wurde mir gestohlen, wie Millionen anderen auch. Wer kann sich die Auswirkungen dieses innerparteilichen Scharmützels auf die Menschen in Großbritannien und viele Millionen mehr in Europa und der ganzen Welt vorstellen? Für mich bedeutete das Ende der Freizügigkeit, dass ich plötzlich mit Reiseproblemen konfrontiert sein würde, mit einem abstürzenden Pfund: Ich gebe zwar Euro aus, verdiene aber in Pfund Sterling.

Ewiger Tourist aus einem Drittland

Ich musste Deutscher werden– oder würde für immer ein Brite mit Visum bleiben, ein ewiger Tourist aus einem Drittland mit nicht mehr Rechten als jemand aus Botswana oder Belize. Es ist nicht so, dass ich mir nichts sehnlicher als die deutsche Staatsbürgerschaft wünschte. Ich will genauso wenig Deutscher sein wie Brite. Europäer ist das, was ich bin.

Nachdem ich monatelang jeden Tag den Briefkasten in banger Erwartung von Neuigkeiten über den Fortgang meines Antrags geöffnet habe, bekomme ich also endlich einen Termin beim Bürgeramt in Moabit. Plötzlich muss es ganz schnell gehen, der nächste Lockdown droht! Im Gepäck mein britischer Reisepass, ein aktuelles Passfoto, der Nachweis, dass ich die 225 Euro-Anmeldegebühr bezahlt habe – und mein Partner. Seine Anwesenheit ist erforderlich, weil es mir nur dank unserer Ehe möglich war, die deutsche Staatsbürgerschaft schon vor Ablauf der normalerweise erforderlichen acht Jahre im Land zu beantragen.

Kurioserweise ist das Büro, in dem wir uns einzufinden haben, gleich um die Ecke von der Bredowstraße, in der seine Mutter, meine Schwiegermutter, 1947 geboren wurde. Sie und ich sind vor ein paar Sommern in der Gegend spazieren gegangen. Sie wollte mir das Haus zeigen, in dem sie aufgewachsen ist, die Markthalle, in der sie ihre Lieblingsgurken gekauft hat. Als wir vor ihrem einstigen Zuhause standen, war die Haustür neu, der Stuck ab, und natürlich kannte sie keinen der Namen auf den Klingelschildern mehr. Die Kneipe nebenan war auch verschwunden, aber der Baum im Hinterhof war noch derselbe, unter dem sie als kleines Mädchen spielte.

Wie gut, dass mein Partner nun neben mir sitzt. Die superfreundliche Beamtin presst ihr kompliziertes Amtsdeutsch durch eine dicke Maske. Zusätzlich trennt uns eine Plastikscheibe, und die zum Lüften geöffneten Fenster lassen den Verkehrslärm von draußen rein. Mein Deutsch bewegt sich auf B1-Niveau (der entsprechende Nachweis lag den Unterlagen bei!), doch ich verstehe kaum ein Wort.

Feiern im Tiergarten

Die Situation ist absurd. Aber mein Partner versorgt mich murmelnd mit einem englischen Soundtrack, und ich stimme allem zu. Nachdem ich im Stehen erklärt habe, dass ich das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten werde, wird mir eine gestempelte und geprägte Einbürgerungsurkunde ausgehändigt, und wir machen uns im kalten Sonnenschein von dannen.

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Im downgelockten Berlin gibt es keinen Platz zum Feiern. Wir radeln zum Schloss Bellevue, und er macht ein Foto von mir mit der Deutschland- und der EU-Flagge. Wir schlendern durch den Tiergarten, entlang der Yitzhak-Rabin-Straße und den Mahnmalen, wir denken an all die getöteten Russen, Juden, Schwule. Geschichte ist überall, die europäische und unsere. Seit Jahren radeln wir hierher, um im Frühling die Rhododendren zu bestaunen. Wir sind in diesem Park spazieren gegangen, haben uns dort mit Freunden getroffen und den CSD miterlebt.

Heute versuche ich, ihn in einem anderen Licht sehen. Wie ein Deutscher. Doch er ist noch wie zuvor: ein lebensbejahender Ort, an dem ich mitten in der Pandemie über den glücklichen Zustand meines Deutschseins und über die kostbaren Rechte nachdenken kann, die mir 2016 gestohlen wurden und die mir jetzt – und ich könnte dankbarer nicht sein – zurückgegeben wurden.

Tim Luscombe

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