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Vor dem Parlament in London haben Demonstranten ein Anti-Brexit-Schild aufgestellt.

© Toby Melville/ REUTERS

Update

Brexit-Plan: Theresa May sucht ihr Heil in der Verlängerung

Abstimmen, verschieben - und hoffen: Die britische Regierungschefin May will die Kontrolle über den EU-Austritt behalten. Was sind die Folgen ihres Plans?

Unter dem Druck rebellischer Regierungsmitglieder hat die britische Premierministerin Theresa May am Dienstag in London erstmals eine Verschiebung des Brexit-Termins in Aussicht gestellt. Sollte das Unterhaus binnen 14 Tagen dem EU-Austrittsvertrag nicht zustimmen, werde sie „eine kurze, zeitlich begrenzte Verlängerung der Austrittsperiode“ bis Ende Juni vorschlagen, sagte May im britischen Unterhaus. Am Vorabend hatte auch die Labour-Opposition unter Jeremy Corbyn eine Kursänderung vorgenommen: Sollte die Regierung „einen schädlichen Tory-Brexit“ durchsetzen, redet Labour nun einem zweiten Referendum das Wort.

Wie wahrscheinlich ist die Verschiebung?

Eine Verschiebung des EU-Austritts Großbritanniens, der für den 29. März vorgesehen ist, ist ziemlich wahrscheinlich. Selbst falls für Theresa May alles nach Plan laufen und das Unterhaus im März der EU-Austrittsvereinbarung zustimmen sollte, könnte die Zeit knapp werden. Zahlreiche Begleitgesetze zum Brexit müssen noch im Unterhaus verabschiedet werden. Auch wenn das Parlament dabei im Rekordtempo arbeiten sollte, ist die Frist bis zum 29. März kaum zu schaffen. Für diesen Fall haben EU-Diplomaten bereits signalisiert, dass sich eine Verschiebung um wenige Woche mit der EU relativ problemlos machen lasse.

Ist die Dauer einer Fristverlängerung von Bedeutung?

Auf jeden Fall. Eine Fristverlängerung um wenige Wochen beziehungsweise zwei oder drei Monate wäre ein Signal, dass Großbritannien nach wie vor eine Trennung von der EU anstrebt. Eine längere Frist von einem Jahr oder sogar von knapp zwei Jahren, wie sie von einigen EU-Diplomaten ins Spiel gebracht wird, könnte einem Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU den Weg ebnen. Dann bliebe gegebenenfalls genügend Zeit, um ein zweites Referendum zu organisieren.

May machte am Dienstag im Unterhaus deutlich, dass sie weiterhin auf eine Trennung von der EU zum 29. März in einem geregelten Verfahren hinarbeitet. Eigentlich wolle sie keine Fristverlängerung, erklärte die Premierministerin. Gleichzeitig ließ sie sich aber eine Hintertür offen: Falls sie wie schon bei der letzten entscheidenden Abstimmung im Januar im kommenden Monat erneut keine Mehrheit für den Austrittsvertrag erhalten sollte, will sie die Abgeordneten darüber abstimmen lassen, ob Großbritannien einfach ohne Deal die EU verlassen soll. Ein sonderlich großes Risiko geht May dabei nicht ein; die Premierministerin weiß, dass es eine parteiübergreifende Mehrheit im Unterhaus gegen einen ungeregelten Brexit gibt. Wenn also wie erwartet eine Mehrheit gegen ein No-Deal-Szenario stimmen sollte, will die Regierungschefin zu guter Letzt im Parlament um Zustimmung zu einer kurzen Verlängerung der Brexit-Frist bitten.

Wie lange diese Frist aus der Sicht Mays dauern sollte, machte die Regierungschefin am Dienstag ebenfalls deutlich. Eine Fristverlängerung bis Ende Juni werde sicherstellen, dass Großbritannien nicht mehr an den Europawahlen teilnehmen müsse, erklärte sie. Allerdings wird diese Einschätzung nicht vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages geteilt. In einer Analyse des Dienstes heißt es, dass Großbritannien zwangsläufig die Europawahlen abhalten müsse, falls das Land noch zum Zeitpunkt der Wahl Ende Mai Mitglied der EU sein sollte.

Warum bietet May die Fristverlängerung an?

Mit der Fristverlängerung stellt May die Parlamentarier vor die Wahl, entweder den – mit einigen Zusätzen versehenen – EU-Deal anzunehmen oder sich auf eine Fortsetzung der Hängepartie mit ungewissem Ausgang einzulassen. Damit rückt May nun in einer erneuten Volte von den Hardlinern in der eigenen Partei um den Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg ab. May weiß, dass die Bereitschaft zum Einlenken bei den Brexiteers um so mehr wächst, je näher der Austritts-Tag am 29. März rückt. May spekuliert möglicherweise für den Fall eines Scheiterns bei der nächsten entscheidenden Brexit-Abstimmung auch darauf, beim kommenden EU-Gipfel am 21. und 22. März öffentlichkeitswirksam weitere Zugeständnisse von der Europäischen Union im Streit um den Austrittsvertrag zu erreichen. Eine entsprechende Gipfel-Inszenierung könnte May dann dazu dienen, das Parlament endgültig zur Zustimmung zum EU-Deal zu bewegen.

Die Regierungschefin berichtete zuvor von „positiven“ Gesprächen in Brüssel und am Rande des Gipfels von EU und Arabischer Liga in Scharm el Scheich. Wichtiger für May dürfte aber die öffentlich ausgesprochene Drohung mehrerer Minister und Staatssekretäre gewesen sein, die bisherige Abwartepolitik nicht länger mitzumachen.

Würde die EU einer Fristverlängerung zustimmen?

Danach sieht es aus. Selbst für den Fall, dass sich die Modalitäten der Scheidung vor Ende März immer noch nicht abzeichnen sollten, möchten auch die 27 verbleibenden EU-Staaten einen No-Deal- Brexit vermeiden. Denn ein ungeregelter Brexit hätte fatale Folgen für die Wirtschaft auf beiden Seiten. EU-Ratschef Donald Tusk hat bereits erklärt, dass eine eventuelle Verzögerung eine „vernünftige Entscheidung“ wäre.

Wie geht es jetzt im britischen Unterhaus weiter?

Einen Anlass zur Rebellion könnte am Mittwoch die Abstimmung über einen Gesetzentwurf der Ex-Ministerin Yvette Cooper (Labour) geben. Auch dieser Antrag soll die Regierung auf eine Verlängerung der Austrittsperiode bis Ende des Jahres verpflichten, falls nicht bis 13. März das Unterhaus dem Austrittsvertrag zugestimmt hat. Damit würde der Chaos-Brexit ohne Austrittsvereinbarung ausgeschlossen.

Den Termin hat sich May jetzt zu eigen gemacht; mit ihrem eigenen Vorpreschen bewahrt sie die Handlungsfähigkeit der Regierung. Hingegen hätte die Verabschiedung des Cooper-Gesetzes „weitreichende Konsequenzen für die Regierbarkeit des Landes“, warnte die Premierministerin. Bisher liegt nämlich die Gesetzesinitiative in allen wichtigen Angelegenheiten ausschließlich bei der Regierung.

Corbyn kanzelte Mays Vorgehen als „grotesk und waghalsig“ ab; statt eine Entscheidung nochmals hinauszuzögern, solle die Premierministerin schon jetzt eine Verlängerung der Austrittsperiode beantragen. Der 69-Jährige verwies auf Gespräche, die er vergangene Woche mit den Verantwortlichen in Brüssel geführt hatte: Dort hatten Corbyn und sein Brexit-Team Labours Pläne für den Verbleib in einer Zollunion mit der EU und enge Anbindung an den Binnenmarkt vorgestellt. „Diese Vorschläge sind durchführbar und könnten umgesetzt werden“, gab der Labour-Chef seinen Eindruck aus den Gesprächen wieder. Hingegen widersetzt sich Brüssel bisher allen Versuchen der Premierministerin, die sogenannte Auffanglösung (Backstop) für Nordirland zeitlich zu begrenzen. Dies wünschen sich konservative Hardliner und die nordirische Protestantenpartei DUP. Der Backstop sieht vor, dass Großbritannien so lange in der Zollunion mit der EU bleibt, bis eine andere Lösung gefunden ist, außerdem sollen in Nordirland weiter einige Binnenmarktregeln gelten. Kritiker fürchten, diese Klausel könne Großbritannien dauerhaft an die Europäische Union binden.

Wie sieht Labours Strategie aus?

Den Plan für einen weichen Brexit will Labour am Mittwoch im Unterhaus zur Abstimmung bringen und zudem das Cooper-Gesetz unterstützen. Sollte eine Mehrheit beides ablehnen, werde man zur Vermeidung des „Tory-Brexit“ ein zweites Referendum befürworten. Dann würden die Briten zwischen Mays Austrittsvertrag und dem Verbleib im Brüsseler Club entscheiden, bekräftigte Brexit- Sprecher Keir Starmer in Medieninterviews. Offenbar gibt es hinter den Kulissen heftigen Streit zwischen den EU-Freunden Starmer und der außenpolitischen Sprecherin Emily Thornberry sowie Finanzsprecher John McDonnell einerseits und den EU-Gegnern rund um den skeptischen Vorsitzenden, darunter mehrere Ex-Kommunisten, andererseits. Für Labour könnten „ausschließlich gewählte Vertreter“ sprechen, sagte Starmer.

Der Parteilinke Corbyn steht im eigenen Schattenkabinett unter Druck, nachdem vergangene Woche neun Abgeordnete die Fraktion verlassen hatten. Neben Corbyns Persönlichkeit und dem schwelenden Antisemitismus-Streit nannten die Abtrünnigen Labours EU-Politik als Hauptgrund. Acht Volksvertreter haben sich mit drei Tory-Rebellen zur Gruppe unabhängiger Abgeordneter (TIG) zusammengefunden.

Was würde bei Neuwahlen passieren?

Einer YouGov-Umfrage vom Wochenende zufolge würde TIG bei Neuwahlen erstaunliche 18 Prozent erzielen, hinter den Torys (36) und Labour (23), aber weit vor den EU-freundlichen Liberaldemokraten (sechs). Auch in anderen Umfragen, in denen TIG nicht als Wahlmöglichkeit genannt war, liegt die Labour-Opposition um rund zehn Punkte hinter der Regierungspartei.

Ob die Labour-Partei ihr mögliches Eintreten für ein erneutes Referendum Stimmen einbringt, ist keineswegs ausgemacht. Bei einer Wiederholung der Frage vom Juni 2016 würden sich seit Monaten rund 55 Prozent der Briten für den EU-Verbleib aussprechen. Die Frage, ob eine zweite Volksabstimmung eine gute Idee wäre, beantwortet hingegen nur ein gutes Drittel mit Ja, erläutert Professor Matthew Goodwin von der Universität Kent.

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