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Ein Brexit-Gegner vor dem britischen Parlament.

© Clodagh Kilcoyne/REUTERS

Brexit-Debatte in Großbritannien: Schwerer Streit bei Labour über zweites Referendum

Labour-Chef Corbyn ist selbst eingefleischter EU-Skeptiker. Abgeordnete drängen dagegen auf eine neue Abstimmung. Und es gibt Liebesgrüße aus Berlin.

In einem leidenschaftlichen Leserbrief in der Londoner „Times“ haben deutsche Spitzenvertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die Briten zum Verbleib in der EU aufgerufen. Die Brexit-Entscheidung werde zwar respektiert, heißt es in dem Schreiben, das unter anderem von der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, SPD-Chefin Andrea Nahles und den Vorsitzenden der Grünen, Annalena Baerbock und Robert Habeck, unterzeichnet war. „Aber die Briten sollten wissen, dass wir keine Entscheidung für unumkehrbar halten. Unsere Tür wird immer offen stehen: Europa ist Zuhause.“

In Großbritannien beginnt nach dem verlorenen Misstrauensantrag gegen Theresa May derweil in der oppositionellen Labour-Party das Hauen und Stechen über den richtigen Brexit-Weg. Von mehr als 100 Abgeordneten seiner 256-köpfigen Fraktion wird der Labour-Chef und eingefleischte EU-Skeptiker Jeremy Corbyn zu einem zweiten Referendum gedrängt. Hingegen wollen eine Reihe von Abgeordneten aus nordenglischen Leave-Wahlkreisen ihre Fraktionsfunktionen niederlegen, falls sich die Partei zu diesem Schritt durchringt. Die Bürger erneut an die Urnen zu rufen, käme einem „Verrat“ gleich, glaubt der einflussreiche Gewerkschaftsboss Len McCluskey.

Labour hatte im Wahlkampf 2015 das Referendum abgelehnt, nach der Niederlage aber mit großer Mehrheit den Vorbereitungen für den Urnengang 2016 zugestimmt. Im Programm für die Unterhauswahl im Jahr darauf war vage vom „bestmöglichen Zugang zum europäischen Markt“ die Rede; dass das Königreich austreten solle, wurde nicht angezweifelt.

Drei Viertel der Labour-Partei will neues Referendum

Mittlerweile sprechen sich fast drei Viertel der rund 540.000 Mitglieder für das zweite Referendum aus, selbst in vielen Leave-Wahlkreisen mit Labour-Abgeordneten existiert Umfragen zufolge eine Mehrheit für den EU-Verbleib. In der Bevölkerung insgesamt überwiegen die Brexit-Gegner knapp mit rund 52 Prozent; die Firma YouGov ermittelte diese Woche sogar einen Wert von 56 Prozent.

Da Konservative und die nordirische Unionistenpartei DUP Neuwahlen eine Absage erteilten, wäre einem Parteitagsbeschluss zufolge jetzt eigentlich der nächste Schritt konsequent. Doch der linke Parteichef und seine engsten Berater, allesamt EU-Gegner, wehren sich mit Händen und Füßen. Bedenken haben auch Mainstream-Sozialdemokraten wie Alan Johnson. Der frühere Innenminister leitete für Labour die Remain-Kampagne des ersten Referendums. „Diesmal würden wir noch höher verlieren“, sagt er, „weil auch viele Remainers für den Austritt votieren würden.“ Justizsprecherin Gloria De Piero teilte dem „Guardian“ ihre Skepsis mit: „Ich wurde gewählt mit dem Versprechen, das Austrittsvotum zu respektieren.“

Labours Ex-Premiers Tony Blair und Gordon Brown, die schottischen und walisischen Nationalisten, die Liberaldemokraten, Grünen, sowie eine Reihe prominenter Torys – allesamt wünschen sie sich eine neuerliche Volksabstimmung und damit die Revision des EU-Austritts. Die Premierministerin lehnt diese Variante strikt ab und veröffentlichte diese Woche ein Dokument, wonach zur Durchführung eines neuerlichen Referendums ein ganzes Jahr nötig sei. Wissenschaftler am University College London kommen zu einem anderen Ergebnis. Politischen Willen und parlamentarische Kooperation vorausgesetzt, sei der Prozess in 22 Wochen zu schaffen. Ein Ergebnis könnte frühestens im Juli vorliegen. Dazu müsste aber der für Ende März terminierte Austritt ausgesetzt und ein entsprechendes Gesetz im Unterhaus erlassen werden – und zwar auf Initiative der Regierung.

Eine Mehrheit scheint es im Unterhaus derzeit nur dafür zu geben, was die Abgeordneten nicht wollen: den Chaos-Brexit ohne Austrittsvereinbarung. Am Montag muss May dem Parlament einen neuen Brexit-Plan vorlegen, acht Tage später soll darüber abgestimmt werden. Corbyn hat noch ein wenig länger Zeit zum Nachdenken als dieses Wochenende. Doch in London besteht kein Zweifel: Für den Labour-Chef geht die bequeme Periode des Wartens auf Fehler der konservativen Regierungspartei zu Ende. (mit dpa)

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