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Fahndungsfotos von Anis Amri kurz nach dem Anschlag.

© dpa

Breitscheidplatz-Attentat: Anis Amri und der zweite Mann

Attentäter Amri hatte einen Freund, der womöglich -für den marokkanischen Geheimdienst spitzelte. Warum wurde der kurz nach dem Anschlag abgeschoben?

Er saß mit Anis Amri am Abend vor dem Anschlag im Restaurant. Gegen ihn wurde wegen möglicher Beteiligung am Attentat ermittelt. Und er verstrickte sich bei den Vernehmungen in Widersprüche. Trotzdem wurde Amris Freund Bilel Ben Ammar im Februar 2017, nur anderthalb Monate nach dem verheerenden Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz, abgeschoben nach Tunesien. Es ist seitdem eines größten Rätsel im Fall Anis Amri: Warum? Aus welchem Grund schob man jemanden ab, der ein möglicher Komplize Amris war, mindestens aber einer der wichtigen Zeugen?

Ein Bericht des Nachrichtenmagazins „Focus“ legt nun eine Erklärung nahe, die es in sich hat: Bilel Ben Ammar sei ein Agent des marokkanischen Geheimdienstes, man habe ihn ausfliegen lassen um ihn vor Strafverfolgung in Deutschland zu schützen. Der „Focus“ zitiert zudem aus einer E-Mail an die Bundespolizei, versendet bereits neun Tage nach dem Anschlag. Darin habe es geheißen, „seitens der Sicherheitsbehörden und des Bundesinnenministeriums“ bestehe ein erhebliches Interesse daran, dass Ammar erfolgreich abgeschoben werde.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der damals noch nicht im Amt war, kündigte an, die Vorwürfe umgehend zu prüfen. Grüne, Linke und FDP wollen Ben Ammar im Untersuchungsausschuss als Zeugen hören. „Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie das möglich macht“, sagte Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz.

„Land des Unglaubens“

Doch was ist dran an der These, Ben Ammar sei dem marokkanischen Geheimdienst zuliebe abgeschoben worden? Die vom Tagesspiegel befragten Sicherheitsbehörden schlossen das aus und bezeichneten es als „Verschwörungstheorie“. Sie halten es allerdings durchaus für denkbar, Ben Ammar könnte ein V-Mann des marokkanischen Geheimdienstes DGST gewesen sein. Belege gebe es nicht, sagen übereinstimmend Fachleute aus mehreren Behörden. Möglich sei schließlich auch, dass die Marokkaner an ihre Erkenntnisse kamen, indem sie die Telekommunikation einer Person aus dem Umfeld Amris abhörten. Ben Ammar komme aber dennoch als Spitzel infrage, weil er in Berlin engen Kontakt zu Anis Amri unterhalten habe.

Und die Marokkaner verfügten über gute Informationen über Amri: Der marokkanische Geheimdienst übermittelte dem Bundeskriminalamt mehrmals Hinweise. Die erste Mitteilung kam im September 2016, dann folgten drei weitere im Oktober. Die Marokkaner warnten, Amri sei Anhänger der Terrormiliz „Islamischer Staat“ und hoffe, sich dem IS in Syrien, Irak oder Libyen anschließen zu können. Amri habe zudem die Bundesrepublik als „Land des Unglaubens“ bezeichnet.

Der marokkanische Geheimdienst sei in Deutschland durchaus aktiv, sagen Sicherheitskreise. Für den DGST seien die Aktivitäten marokkanischer Oppositioneller sowie die Umtriebe militanter Islamisten – auch aus anderen Staaten – von Interesse. Auch wenn deutsche Sicherheitsbehörden die Aktivitäten ausländischer Nachrichtendienste hierzulande grundsätzlich mit Argwohn beäugen, ist doch in Bezug auf den marokkanischen Dienst von einer „relativ besseren Zusammenarbeit“ bei der Beobachtung der islamistischen Terrorszene die Rede. Das sei dem DGST wichtig, da sich mehrere tausend Marokkaner der Terrormiliz IS angeschlossen hatten.

Ben Ammar war ebenfalls IS-Anhänger

Doch wenn Ben Ammar aber nicht den Marokkanern zuliebe abgeschoben wurde, bleibt das Rätsel weiter bestehen, warum man ihn so schnell loswerden wollte. Die Bundesanwaltschaft teilte am Freitag mit, die Erkenntnisse für den Erlass eines Haftbefehls seien nicht ausreichend gewesen. Die Behörde ermittelte gegen Ben Ammar wegen des Verdachts, er könnte am Anschlag von Amri beteiligt gewesen sein. Es habe sich allerdings nur um einen Anfangsverdacht gehandelt. Aus Sicherheitskreisen heißt es, das Risiko sei deshalb zu hoch gewesen, dass ein islamistischer Gefährder und dann noch ein Freund von Amri auf freien Fuß gekommen wäre. Das hätte die Öffentlichkeit kurz nach dem Anschlag zurecht empört.

Allerdings gab es eine Reihe von Indizien, die für seine Tatbeteiligung Ben Ammars sprachen. So war er selbst offenbar ebenfalls IS-Anhänger. Das lässt sich aus einem Facebook-Eintrag schließen, in dem er 2015 einen Treueeid auf den Kalifen des IS, Abu Bakr al-Baghdadi veröffentlicht. Zudem wurden auf seinem Mobiltelefon Bilder vom Breitscheidplatz gefunden, die vor dem Anschlag entstanden sind. Im Februar 2016 fotografierte er nicht vorrangig die Gebäude um den Platz herum oder die Gedächtniskirche, sondern Straßen und Begrenzungspoller. Mit Amri war er außerdem nicht nur am Vorabend des Anschlags essen, die beiden standen offenbar auch am Tattag selbst noch per Handy in Kontakt.

Besonders schwer wog außerdem ein Verdacht, dem die Bundesanwaltschaft Anfang 2017 nachging. Sie vermutete, dass ein Mann, der nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz helfen wollte, von einem Amri-Unterstützer niedergeschlagen wurde, um dem Attentäter die Flucht zu ermöglichen. War es Ben Ammar? Journalisten hatten am Abend des Anschlags Fotos am Breitscheidplatz gemacht. Darauf war ein Mann zu sehen, der blaue Latexhandschuhe trug und Ammar ähnlich sah. Auch der „Focus“ berichtet nun von einer auf einem Hochhaus am Breitscheidplatz montierten Kamera, die filmte, wie Amri aus dem Lkw ausstieg, um zu flüchten. In diesem Moment zeige der Film, wie eine Ben Ammar ähnlich sehende Person einen Mann mit einem Kantholz an den Kopf schlägt, um Amri den Weg freizumachen.

Untergetaucht

Die Bundesanwaltschaft betont, „die bisherigen Ermittlungen haben nicht ergeben, dass sich – abgesehen von Anis Amri – ein Tatbeteiligter zum Zeitpunkt des Anschlags vor Ort aufgehalten hat“. Mehrere Polizeibeamte, die sich bei den Vernehmungen längere Zeit einen eigenen Eindruck von Ben Ammar verschaffen konnten, gingen den Akten zufolge davon aus, dass er nicht die auf den Fotos abgebildete Person sei. Um 22.39 Uhr am Tatabend schickte Ben Ammar außerdem ein Foto von sich selbst über Whatsapp an eine tunesische Nummer – nach dem Eindruck der Ermittler machte er das Foto in seiner Flüchtlingsunterkunft in Spandau. Fotos auf Ben Ammars Handy, die den Breitscheidplatz am Tatabend zeigen, seien ihm zugeschickt worden.

Im Oktober 2017 stellte die Bundesanwaltschaft das Verfahren ein – mehr als siebeneinhalb Monate nachdem der Tunesier abgeschoben wurde. Dort ist Ben Ammar untergetaucht. Wie die Bundesregierung ihn für eine Zeugenvernehmung im Untersuchungsausschuss nach Berlin bringen soll, ist unklar.

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