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Anja Maria-Antonia Karliczek (47, CDU) ist Bundesministerin für Bildung und Forschung.

© Ralf Hirschberger/dpa

Bildungsministerin Karliczek im Interview: "Die gefühlte Unsicherheit nimmt zu"

Bildungsministerin Karliczek spricht über Integration, Merkels "Wir schaffen das", den Streit der Unionsschwestern und die digitale Zukunft.

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Frau Karliczek, der Fußballer Mesut Özil galt viele Jahre als Beleg dafür, dass Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland gut integriert sind und ihnen ein gesellschaftlicher Aufstieg offensteht. Nun beklagt er das als einen Irrtum und sagt, er werde immer nur dann als Deutscher gesehen, wenn er mit seiner Mannschaft gewinnt. Wenn er verliert, dann sei er sofort wieder der Einwanderer. Müssen wir den Stand der Integration neu bewerten?

Die Debatte um das Ausscheiden der Nationalelf aus der Weltmeisterschaft und die Gründe dafür wird leider in einer sehr aufgeheizten Stimmung geführt. Für Zwischentöne ist darin scheinbar kein Platz. Ich glaube, Mesut Özils Satz ist ein Beleg dafür, dass wir in der Vergangenheit zwar miteinander geredet haben und das ja auch immer noch tun, dass wir aber trotzdem zu wenig Verständnis füreinander aufbringen. Und jetzt bricht etwas auf, was schon viel länger unter der Decke brodelt, auf beiden Seiten. Und es kommt ans Tageslicht, weil die große Zahl an Zugewanderten, die es zu integrieren gilt, natürlich zu einigen Konflikten führt.

Ihre Partei, die CDU, hat sich jahrzehntelang gegen das Bekenntnis gewehrt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.

Ich will die Verantwortung gar nicht auf andere schieben. Auch die CDU hat lange unterschätzt, wie wichtig es ist, über Werte, Regeln und Strukturen von Integration zu sprechen, damit die hier Lebenden und die zu uns Kommenden gut miteinander auskommen und eine Gemeinschaft werden können. Aus meiner Sicht müssen wir in Deutschland dringend eine ruhige und gründliche Diskussion darüber führen, wie wir miteinander leben wollen und was einem toleranten Umgang im Weg steht.

Wie soll eine solche Diskussion geführt werden, ohne dass gegenseitige Schuldzuweisungen die Gräben noch mehr vertiefen?

Ich setze da sehr stark auf das Miteinander in Dörfern, Landkreisen, Stadtbezirken, Vereinen, aber auch Unternehmen und Kirchen. Ich komme aus einem eher ländlich geprägten Raum…

…im Norden von Nordrhein- Westfalen…

Richtig, aus dem Tecklenburger Land, um genau zu sein. Auf dem Höhepunkt des Flüchtlingszustroms haben sich hier die Menschen zusammengesetzt und darüber gesprochen, wie die Probleme gelöst werden können, wo die Flüchtlinge untergebracht werden, wie sie Deutsch lernen und Arbeit finden können. Daraus sind zahllose Initiativen erwachsen, die dafür gesorgt haben und noch immer dafür sorgen, dass sich erst gar keine Ghettos Unzufriedener bilden und Konflikte ausbrechen.

Welche Erfahrungen haben die Menschen in Ihrer Heimat mit dem "Wir schaffen das" der Kanzlerin gemacht?

Anfangs hieß es, wir schaffen das bis Weihnachten 2015, dann sind wir überfordert. Danach wurde es dann auch schwer. Es fehlten Unterbringungsmöglichkeiten, Lehrkräfte. Und auch heute sind längst nicht alle Probleme beseitigt, zumal in den Schulen, wo Strukturreformen und Inklusion die Lehrer auch ohne Flüchtlinge stark fordern. Obwohl es den Menschen in meiner Heimat überwiegend wirtschaftlich gut geht, werden die Fragen nach der Bewältigbarkeit der Integration immer drängender gestellt. Ich sage das, weil ich fürchte, dass die gesellschaftlichen Konflikte zunehmen, zum Beispiel wenn die Konjunktur einmal nicht mehr so gut läuft. Daher auch mein Appell, dass Politik auf allen Ebenen die Probleme vor Ort immer wieder genau ansieht, damit die Menschen nicht das Gefühl haben, sie würden mit den Folgen politischer Entscheidungen allein gelassen.

Ihre Familie führt seit Generationen ein Hotel. Beschäftigen Sie Flüchtlinge?

Ja, mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen. Einige junge Leute haben Praktika gemacht und sind wieder gegangen. Ein junger Mann musste die Lehre abbrechen, weil er die Schule nicht geschafft hat. Und jetzt hat ein Mitarbeiter gerade seine Lehre beendet.

Die CSU und ihr Vorsitzender, Horst Seehofer, haben in den vergangenen Wochen einen heftigen Streit mit der CDU über die Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze geführt und das mit der notwendigen Herstellung von „Ordnung und Sicherheit“ im Land begründet. Ist das Gefühl des Verlustes von Ordnung und Sicherheit in Ihrer Heimat spürbar?

Ja, die gefühlte Unsicherheit nimmt zu. Allerdings weniger wegen der Flüchtlinge, sondern seit vielen Jahren vor allem wegen der zunehmenden Einbrüche in Häuser und Wohnungen. Die Zahlen gehen jetzt zurück, was der Polizei zu verdanken ist. Was ich in diesen Tagen feststelle, das ist ein Kommunikationsproblem. Seit Wochen und Monaten wird behauptet, dass Frau Merkel die Grenzen geöffnet habe und nun die Flüchtlinge ungehindert nach Deutschland kommen. Das erzeugt völlig falsche Bilder, die Menschen machen sich Sorgen um ihre Sicherheit und in der Tat wächst auch in meiner Heimatregion die Verunsicherung. Und dies, obwohl die Bilder gar nicht stimmen. Ich sage den Menschen daher immer wieder, dass wir seit Jahren offene Grenzen für EU-Bürger in Europa haben.

Hat die Auseinandersetzung zwischen CSU und CDU der Union insgesamt geschadet?

Die Art und Weise des Streits hat geschadet, weil persönliche Grenzen überschritten wurden. In der Sache haben wir in der Union immer gerungen. Früher etwa zwischen dem Arbeitnehmerflügel und Mittelstandspolitikern, heute geht es um innenpolitische Themen, um Grenzen und Freiheit, um Identität und Toleranz.

Wo stehen Sie?

Ich stehe in der Mitte, denn ich finde alle Wurzeln der CDU, die christliche, die konservative, die liberale, in mir. Wenn konservativ bedeutet, dass ich das, was uns ausmacht und mein eigenes Lebensgefühl bewahren will und mich trotzdem offen für Neues zeige, dann können Sie mich auch konservativ nennen. Wenn die Definition aber auf das Bewahren beschränkt bleibt, dann hat das etwas Rückwärtsgewandtes, und das bin ich nicht.

Das Ziel der CSU dürfte auch gewesen sein, durch die Debatte die rechtspopulistische AfD zu bekämpfen. Geht das, in dem man deren Argumente zu seinen macht?

Die AfD führt Debatten mit Argumenten, die wir manchmal vor zwanzig Jahren hatten und die – wenn man sie genau betrachtet – nicht mehr in die heutige Welt passen. Allerdings müssen wir diese Argumente auch aufgreifen und als untauglich entlarven. Nur so können wir uns als Union abgrenzen. Aus meiner Sicht findet eine wirkliche Auseinandersetzung kaum statt. Schnell und schneidig werden die AfD-Argumente vom Tisch gewischt. Das führt dazu, dass die Menschen, die diese oberflächlichen Thesen der AfD glauben, erst recht das Gefühl haben, sie müssten diese populistische Partei unterstützen. Ich denke, wir können nur mit ernsthafter und direkter Auseinandersetzung klarmachen, dass AfD- Politik niemanden weiterbringt. Dieser Aufgabe muss sich die CDU stellen.

Noch in diesem Herbst will Horst Seehofer Eckpunkte für ein Einwanderungsgesetz vorlegen. Wird das den Fachkräftemangel der deutschen Wirtschaft beheben?

Ich hoffe, dass es den Mangel lindern wird. Es gibt auch heute schon verschiedene Möglichkeiten für Fachkräfte, in den deutschen Arbeitsmarkt einzuwandern. Aber die Möglichkeiten und Wege sind unübersichtlich und es dauert oft zu lange. Wenn es hier zu systematischen und handhabbaren Lösungen kommt, wird das den Unternehmen helfen.

Wer soll kommen? Menschen, die Fach- und Sprachkompetenz haben, etwa in einem Punktesystem wie in Kanada? Oder diejenigen, die einen Arbeitsplatz in Deutschland vorweisen können?

Das Wesentliche ist ein Arbeitsplatz und eine anerkannte Berufsqualifikation. Klar ist, dass die bürokratischen Prozesse beschleunigt werden müssen, denn in einigen Branchen, ich denke an den Pflegebereich, haben wir wirkliche Not. Dennoch sage ich: Der Job muss die Voraussetzung für Einwanderung sein. Denn Arbeit ist eine wichtige Komponente von Integration, aber auch Akzeptanz. Ob wir einen Wettbewerb zulassen wollen zwischen Arbeitnehmern, die hier leben, mit Einwanderern, die zwar Kompetenz nachweisen, aber erst hier auf Jobsuche gehen, sollten wir gut überlegen.

Die Unternehmen klagen darüber, dass zu wenige junge Leute einen Ausbildungsplatz suchen und gleichzeitig die Befähigung der Schulabgänger für eine Ausbildung sinkt. Ist die Berufsausbildung in der Vergangenheit vernachlässigt worden?

Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass wir viele Jahre hatten, in denen die Unternehmen sich aussuchen konnten, wen sie ausbilden, und die jungen Leute händeringend Stellen suchten. Jetzt sieht es anders aus, die Bewerber können sich ihre Stellen aussuchen und die Unternehmen müssen sich anstrengen, wenn sie junge Leute für sich interessieren wollen. Natürlich gibt es Schulabgänger, die den Anforderungen nicht gewachsen sind. Mit ihnen muss sich die Wirtschaft besonders auseinandersetzen und sie nachschulen. Das kann in regionalen Initiativen oder durch die Handelskammern erfolgen. Aber ich muss unsere Jugend insgesamt in Schutz nehmen: Wir hatten nie eine besser ausgebildete junge Generation, lauter tolle junge Frauen und Männer.

Anders als Ihre Vorgängerinnen im Amt der Bundesbildungs- und Forschungsministerin wollen Sie gerade die berufliche Ausbildung stärken. Warum?

Die Verbindung von Praxis und Theorie, die duale Ausbildung, ist eines der Erfolgsrezepte der deutschen Wirtschaft und die Welt beneidet uns darum. Nun stellen wir fest, dass leistungsstarke Schüler immer mehr in ein Hochschulstudium drängen und manche nach wenigen Semestern abbrechen, weil sie feststellen, dass ihnen die akademische Laufbahn doch nicht liegt. Bis zu einer neuen beruflichen Orientierung verlieren sie so Jahre. Ich möchte die beruflichen Abschlüsse, wie den Meister, den akademischen, etwa dem Bachelor, wirklich gleichstellen und den jungen Leuten damit die Möglichkeit einer echten Wahl geben. Wer eine berufliche Ausbildung macht, kann praktische Erfahrungen sammeln und sich später unproblematisch weiterentwickeln. Diese Durchlässigkeit darf nicht auf Ausnahmen beschränkt werden, sondern soll die Regel werden.

Mit dem Digitalpakt wollen Sie Milliardenbeträge in die Hardware der Schulen investieren und dafür das Grundgesetz ändern, das die Schule der Länderkompetenz zuweist. Warum diese grundlegende Strukturänderung und keine Veränderung der Steuerverteilung, die den Ländern das Geld für die Digitalisierung der Schulen ebenso sichern würde?

Eines ist klar: Es gibt viele Herausforderungen, vor denen das Schulsystem steht. Der Bund hilft, wo es ihm erlaubt ist. Im Hochschulbereich haben wir zahlreiche Bund-Länder-Vereinbarungen abgeschlossen. Gerade läuft das Verfahren, um Artikel 104c des Grundgesetzes zu ändern, Grundlage für den Digitalpakt. Im Bereich der Digitalisierung müssen jetzt zwei Aufgaben in sehr kurzer Zeit gelöst werden. Das ist zum einen die Ausstattung der Schulen mit Technik und zum anderen die Weiterbildung von Lehrern.

Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat es "aberwitzig" genannt, den Föderalismus gerade dann zu schwächen, wenn eine wachsende Zahl von Menschen Halt und Heimat sucht. Können Sie das nachvollziehen?

Wenn Herr Kretschmann damit meinte, dass der Föderalismus für den Zusammenhalt der Gesellschaft wichtig ist, dann bin ich ganz bei ihm. Denn ich meine, dass die Länder der Aufgabe ein gutes Schulsystem für die jungen Leute bereitzuhalten, insgesamt gut nachkommen. Und dort, wo es mehr Vergleichbarkeit geben muss, da sind die Länder an Veränderungen dran. Zum Beispiel bei der Vergleichbarkeit des Abiturs. Zudem soll nun ein Nationaler Bildungsrat Vorschläge für mehr Vergleichbarkeit, Transparenz und Qualität vorlegen. Ich sehe mich als jemand, die die Länder bei der Umsetzung der Aufgaben im Schulbereich unterstützt. Aber ich bin keine Bundes-Schulministerin.

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